Ken Loach: „Daniel Blake hätte für den Brexit gestimmt“

FILES-BRITAIN-EU-POLITICS-LOACH
FILES-BRITAIN-EU-POLITICS-LOACH(c) APA/AFP/DANIEL LEAL-OLIVAS
  • Drucken

Filmemacher Ken Loach über die miesen Mechanismen der britischen Sozialhilfe, die er im Film „I, Daniel Blake“ zeigt, den Samariter in jedem von uns und den einzigen Grund, in der EU zu bleiben: ein Gespräch zur Viennale.

Der 80-jährige britische Sozialrealismusveteran und überzeugte Trotzkist Ken Loach hat mit „I, Daniel Blake“ einen seiner dringlichsten Filme seit Langem gemacht. Dave Johns spielt darin einen alternden Schreiner, der nach einem Herzinfarkt in eine bürokratische Zwickmühle gerät: Um Beihilfe beantragen zu können, muss er sich eine Arbeit suchen, obwohl ihm von ärztlicher Seite Schonung verordnet wurde. Loach begleitet seine tragikomischen Irrwege durch ein kafkaeskes Wohlfahrtssystem mit gewohnter Empathie und rechtschaffener Wut, die von der inszenatorischen Zurückhaltung unterstrichen wird. Beim jüngsten Cannes-Filmfestival gab es dafür die Goldene Palme, am 28. Oktober hat der Film bei der Viennale seine Österreich-Premiere.

Die Presse: Herr Loach, nach Ihrem jüngsten Spielfilm, „Jimmy's Hall“, flirteten Sie in Interviews mit dem Ruhestand. Was hat Sie dazu bewogen, für „I, Daniel Blake“ doch wieder auf dem Regiestuhl Platz zu nehmen?

Ken Loach: Hauptsächlich persönliche Erfahrungsberichte von Menschen, die mit dem britischen Wohlfahrtssystem zu tun hatten. Mein langjähriger Ko-Autor Paul Laverty und ich hatten viel über die Stolpersteine der Sozialhilfe gehört. Also tourten wir durch England und trafen uns mit Leuten in Jobcentern und Ausspeisungsstellen. Ihre Geschichten haben uns schockiert. Unzählige sind unwürdigen Mechanismen ausgesetzt, aber kaum einer spricht darüber. Wir fühlten uns verpflichtet, ein Licht darauf zu werfen.

Was hat Sie so betroffen gemacht?

Es fällt schwer, ein Schicksal herauszugreifen. Paul lernte jemanden kennen, der für drei Jahre vom Sozialleistungsbezug ausgeschlossen wurde. Ein intelligenter und hochkompetenter Mann mit ausgezeichneten Referenzen, der seinen Fabriksjob verloren hatte. Als Voraussetzung für finanzielle Unterstützung verlangte das Sozialamt von ihm, gratis in seiner alten Stelle weiterzuarbeiten. Er weigerte sich und wurde sanktioniert.

Wo liegt der Ursprung dieses Systems?

Die Sanktionen gab es schon zur Zeit der Labour-Regierung, nach dem Tory-Sieg 2010 hat es sich verschlimmert. Arbeitsminister Iain Duncan Smith wollte unbedingt härtere Strafen für das Verbrechen Arbeitslosigkeit.

Das ist kein spezifisch britischer Trend.

Das stimmt. In manchen Ländern – Spanien, Griechenland – ist es noch viel schlimmer. In Großbritannien gibt es circa 1,6 Millionen Arbeitslose. Dazu kommen fünf Millionen Teilzeitbeschäftigte, die nur ein- bis zweimal in der Woche arbeiten gehen. Relativ neu ist das Phänomen der Scheinselbstständigkeit – etwa jemand, der de facto für einen Lieferservice arbeitet, aber weder Urlaubs- noch Krankengeld bekommt. Oft erreichen diese Menschen nicht einmal den Mindestlohn, staatliche Beihilfe ist für sie überlebensnotwendig.

Ihre Filme zeigen viel spontane zwischenmenschliche Solidarität. Wunschdenken?

Das glaube ich nicht. Solidarität findet sich überall, es gibt nie einen Mangel an freiwilligen Helfern. Die Menschen, die in den Lebensmittelbanken arbeiten – oft sind es ältere Frauen –, sind ein gutes Beispiel. Sie sind stets darum bemüht, die Würde der Bittsteller zu wahren. Sie sagen nie: „Ich werde Ihnen etwas zu essen geben“, sondern: „Ich werde Ihnen beim Einkaufen helfen.“ Sie wissen genau, wie demütigend es ist, auf Spenden angewiesen zu sein. Ich glaube, es liegt in unserer Natur, gute Samariter zu sein.

In einer Lebensmittelbank spielt eine der eindringlichsten Szenen. Daniels Bekannte Katie verliert bei der Essensausgabe die Beherrschung und beginnt, mit der Hand Bohnen aus der Konserve zu essen.

Diese Szene basiert auf einer wahren Begebenheit. Sie stand zwar im Drehbuch, aber nur wenige am Set wussten davon, auch Hauptdarsteller Dave Johns nicht. Die Reaktionen sind also überwiegend improvisiert.

Johns kennt man vor allem als Stand-up-Comedian. Es ist nicht das erste Mal, dass Sie jemandem mit komödiantischen Wurzeln die Hauptrolle geben. Was schätzen Sie an seinem schauspielerischen Zugang?

Ich achte immer darauf, dass meine Darsteller einen persönlichen Bezug zur Figur haben: Johns war früher Maurer und kommt aus der Gegend Newcastles, wo der Film spielt. Und mit Komikern arbeite ich grundsätzlich gern zusammen. Gute Arbeiterklassen-Komödianten sind meist aufmerksame Beobachter, Kenner ihres Milieus. Man hört es an ihrer Stimme, am Dialekt. Ihr Sprachverständnis ist hervorragend, und für gewöhnlich machen sie sich sehr gut in ernsten Rollen. Lustig sein ist ohnehin viel schwerer.

Mit „I, Daniel Blake“ gewannen Sie in Cannes zum zweiten Mal die Goldene Palme. Sind solche Preise wichtig für Sie?

Vor allem für die Filme, weil sie helfen, Verleiher und Spielstätten davon zu überzeugen, sie zu zeigen. Kino dieser Art wird oft bewusst ignoriert: Ein großer Preis wie die Goldene Palme macht das ein bisschen schwieriger.

Vor 50 Jahren löste Ihr Fernsehdrama „Cathy Come Home“ eine große Debatte über Obdachlosigkeit aus und führte indirekt zur Gründung karitativer Einrichtungen. Glauben Sie, auch „I, Daniel Blake“ könnte politisch so wirksam sein?

Ich zweifle daran. Die Verantwortlichen wissen genau, was sie tun, ich erzähle denen nichts Neues. Die Jobcenter-Angestellten müssen ein gewisses Sanktionspensum erfüllen. Wenn sie das nicht schaffen, werden sie auf eine „Optimierungsliste“ gesetzt und stehen unter Druck, ihre Straffrequenz zu erhöhen. Es ist eine Zermürbungsstrategie. Wenn das Amt einen Sozialhilfeanwärter als arbeitstauglich einstuft, dieser aber mit einem ärztlichen Attest Einspruch erhebt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er sich durchsetzen kann, relativ hoch. Also versucht man, es gar nicht so weit kommen zu lassen.

Es gibt derzeit also keine Reaktionen auf den Film aus der Politik?

Der Film läuft noch nicht lange in England, aber die Labour-Partei unter der linksorientierten Führung von Jeremy Corbyn hatte schon vorher den Plan angekündigt, das Sanktionssystem einer Prüfung zu unterziehen. Corbyn hat die Unterstützung der Parteibasis, aber es gibt eine Gruppe MPs aus der Blair-Ära, die seine Bemühungen aus Machterhaltungsgründen untergraben. Sie würden eher die Wahl verlieren als ihm das Feld zu überlassen.

Sie waren früher Labour-Mitglied, wandten sich aber in den Blair-Jahren von der Partei ab. Sind Sie jetzt wieder dabei?

Nicht offiziell.

Aber Sie haben unlängst ein Unterstützungsvideo für Corbyn gedreht.

Das war nur eine Handvoll Sequenzen für YouTube, kein richtiger Film.

Entschuldigen Sie, aber eine Brexit-Frage muss noch sein: Hätte Daniel Blake für oder gegen den Austritt aus der EU gestimmt?

Daniel hätte wahrscheinlich Leave gestimmt, genauso wie ein Großteil der Menschen, die im Nordosten Englands leben. Die großen Industrien – die Minen und Werften – wurden dort schon lange aufgelassen. Die Region steckt in der Krise, der Unmut ist groß.

Hätten Sie ihm davon abgeraten?

Ich bin mir nicht sicher. Als ökonomisches Projekt befördert die EU Privatisierung und spielt so vor allem den Großunternehmen zu. Wieso sollte die Linke das unterstützen? Der einzige wirklich legitime Bleibegrund ist die Möglichkeit der Solidarisierung mit anderen europäischen Bewegungen wie Syriza und Podemos.

PERSON UND FILM

„The Wind That Shakes the Barley“ über den irischen Freiheitskampf in den 1920er-Jahren hat Ken Loach 2006 seine erste Goldene Palme in Cannes beschert. Aber schon seit den 1960er-Jahren drehte er inspiriert vom italienischen Neorealismus sozialkritische realistische Filme – etwa 1966 das TV-Drama „Cathy Come Home“ über ein unverschuldet arbeits- und obdachloses Paar, dem die Behörden die Kinder wegnehmen wollen. International bekannt machte ihn der Film „Kes“ (1969) über die perspektivlose Jugend in den nordenglischen Arbeiterstädten.

„I, Daniel Blake“ wird zweimal im Rahmen der Viennale im Gartenbaukino zu sehen sein: am Freitag, 28. 10., um 18.30 und am Dienstag, 1. 11., um 12.30 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.10.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.