Zwei Antihelden und 2280 Tote im „Tatort“

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Am Sonntag zeigen ORF und Das Erste den 1000. Fall der Fernseh-Krimireihe, die seit 1970 läuft und noch immer ein Millionenpublikum erreicht. Der neue Fall – „Taxi nach Leipzig“ – ist ein dichtes psychologisches Entführungsdrama.

Es ist einer der traurigsten Fälle der „Tatort“-Reihe. Und einer der ungewöhnlichsten. Am Sonntag wird Charlotte Lindholm nach einem Vortrag in ein Taxi zu Klaus Borowski steigen. Die zwei kennen einander nicht, denn sie ermittelt in Hannover, er in Kiel – und sie haben keine Ahnung, dass ihnen der Mann am Steuer als ihr Entführer gleich mehr über die Psychologie der Verzweiflung beibringen wird als ihnen lieb ist. Er wird sie an tief sitzende Ängste erinnern, wird ihre Improvisationskunst und ihren Heldenmut herausfordern, und er wird ihr Mitleid erregen.

Das ist das Rezept, nach dem der „Tatort“ seit Jahrzehnten funktioniert: Es menschelt. 22 Teams in Deutschland, Österreich und der Schweiz tun derzeit ihren Dienst. Der Bogen spannt sich so breit wie abwechslungsreich von den gepflegt humorvollen Münsteranern Thiel und Boerne (Axel Prahl und Jan Josef Liefers) über die in der Dauerlebenskrise steckende Berlinerin Nina Rubin (Meret Becker) bis zum schießwütigen Nick Tschiller (Til Schweiger, Hamburg).

Seit 46 Jahren schreiben sich die Autoren von einem Kriminalfall zum nächsten – und kommentieren dabei die politischen und gesellschaftlichen Zustände, die die Zuschauer bewegen. Auch das gehört zum „Tatort“. Walter Richter ermittelte als Kommissar Trimmel in der allerersten Episode „Taxi nach Leipzig“ (1970) grenzüberschreitend im geteilten Deutschland. Heute wirkt das wie eineinhalb Stunden Geschichtsunterricht über Bespitzelung („Deine Telefonleitung ist hoffentlich sauber“), sozialistische Mangelwirtschaft (Turnschuhe aus der BRD erregen Verdacht) und Fluchtbeihilfe („Ich hätte dich über Rumänien und Jugoslawien rausbringen können“).



Mord mit Erdnüssen. Wer sich alte Fälle ansehen will, der muss in die Mediathek des Berliner Museums für Film und Fernsehen pilgern, dort kann man alle finden. Die Statistik dazu liefert die Fan-Seite tatort-fundus.de: 2280 „Tatort“-Opfer hat man dort gezählt – 856 wurden erschossen, 254 erschlagen, 175 vergiftet. Am heimtückischsten in der Episode „Unsterblich schön“ (2010): Da starb eine Allergikerin an einem Kuss, nachdem ihr Mann vorher Erdnüsse gegessen hatte.

Jeden Sonntag schauen etwa zehn Millionen Menschen „Tatort“ an. Damit zählt die Krimireihe zu den großen Erfolgen des deutschsprachigen Fernsehens. Auch in Österreich, wo u. a. Fritz Eckart als Oberinspektor Marek (in 14 Fällen) in Erinnerung blieb. Laut inoffizieller Zählart ist der Fall am Sonntag bereits der 1013., denn 13 Folgen wurden nur in Österreich gezeigt – u. a. eine mit Miguel Herz-Kestranek in der Hauptrolle (1986). Das aktuelle Wiener Ermittlerduo Moritz Eisner (Harald Krassnitzer seit 1999) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser seit 2011) hat mittlerweile 14 gemeinsame Fälle gelöst.

„Taxi nach Leipzig“ (die Jubiläumsfolge knüpft nur im Namen an den Debütfilm an) ist eine Abhandlung darüber, wie ein Mensch (aus nachvollziehbaren Gründen) ausrasten kann. Die Atmosphäre ist beklemmend, die zwei Kommissare und der Täter sitzen fast die ganze Zeit im Auto. Die Erzählweise ist ungewöhnlich: Man kann den Akteuren beim Denken zuhören, was dieses psychologische Drama zusätzlich verdichtet. Und mittendrin: ausgerechnet Borowski (Axel Milberg)!

Dieser Antiheld unter den „Tatort“-Kommissaren, hat keine Actiontricks auf Lager wie Tschiller, ist nicht so wortgewandt wie Boerne. Und mit Kollegin Lindholm (Maria Furtwängler) hat er eine Frau zur Seite, die sich mehr fürchtet, als sie zugibt. Borowski verstaucht sich den Fuß, als er versucht, ein Auto zu kapern, und hat seine Tricks aus dem Info-Video: Statt Sand wirft er dem ausrastenden Taxler ein zerbröseltes Keks in die Augen, das er in einer Vortragspause als heimlichen Proviant in die Sakkotasche gesteckt hat. Borowski und Lindholm sind keine toughen Typen, sie sind weder cool noch jung, schon gar nicht perfekt – so wie Menschen eben sind. Auch das zeichnet die „Tatort“-Reihe aus.

Und noch etwas gehört zu dieser Erfolgsgeschichte: Das Gute siegt (fast) immer. (13. 11., 20.15 h, ORF)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.11.2016)

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