Viennale: Österreichische Filmemacher empfehlen ...

Tizza Covi und Rainer Frimmel
Tizza Covi und Rainer Frimmel (c) Julia Stix
  • Drucken

Tizza Covi & Rainer Frimmel, Jessica Hausner, Peter Kern und Ludwig Wüst: Filmemacher aus Österreich, die bei der Viennale vertreten sind, geben Empfehlungen zum Wiener Filmfest.

Tizza Covi & Rainer Frimmel - Die Eröffner

(c) Julia Stix

Dass die Viennale heuer erstmals mit einer österreichischen Produktion eröffnet, ist auch als Zeichen für die Stärke des aktuel­len heimischen Filmschaffens zu werten. La pivellina, der erste Spiefilm des Paars Tizza Covi und Rainer Frimmel (beide Jahrgang 1971), kann auch so bereits auf eine beachtliche Erfolgsgeschichte zurückblicken: Gleich zur Cannes-Premiere im Mai wurden er mit dem „Label ­European Cinemas“ ausgezeichnet. Der Wiener Frimmel war zuvor insbesondere mit Aufzeichnungen aus dem Tiefparterre (2000), einer abgründig-komischen Montage von Kleinbürgervideotagebüchern, aufgefallen, seither hat er mit der Südtirolerin Covi aus Bozen Fotografie-, Theater- und Filmprojekte realisiert.

2005 entstand die preisgekrönte Wanderzirkusdokumentation Babooska, deren Milieu – und teilweise auch Personal – für La pivellina wieder aufgegriffen und mit einem leisen fiktionalen Drall ausgestattet worden ist: Die Zirkusartistin Patrizia findet in einem Außenbezirk Roms ein zweijähriges Mädchen und nimmt es mit heim zu ihrer Familie. Zwar ist ihr Gatte der Ansicht, dass man die Polizei einschalten müsste, aber er bringt es nicht übers Herz, das (äußerst) süße Kleinkind wegzugeben. Das ist im Wesentlichen die Handlung, und selbst das wird ganz beiläufig geschildert: Als Dokudrama hat La pivellina erstaunlich wenig Interesse an Dramatik, lässt den erwartbaren Konflikt links liegen und konzentriert sich auf den Alltag von Außenseitern. Zwischen desolaten Schauplätzen entdecken Covi und Frimmel natürlichen Charme und leisen Humor, sei es dank der bemerkenswert bodenständigen Patrizia, einer spontanen Boxlektion des Nachbarsbuben für die Kleine – oder des verblüffenden Besuchs in einem Wachsfigurenkabinett samt Geschichtsunterricht mit Mussolini.

Empfehlungen:

„Die Frau mit den fünf Elefanten“ (Vadim Jendreyko). Da ich eine besondere Vorliebe für russische Literatur habe, will ich mir diese Dokumentation über die Übersetzerin Swetlana Geier, die u. a. die fünf großen Romane von Dostojewski, die „Fünf Elefanten“, neu übersetzt hat, nicht entgehen ­lassen.

„Minnie and Moskowitz“ (John Cassavetes). Ein Film, den ich noch nie gesehen habe, von einem meiner Lieblingsregisseure (Covi).

„Un Prophète“ (Jacques Audiard). Dieses mit Laiendarstellern realisierte Gefängnisdrama war heuer einer der Höhepunkte in Cannes.

„Seven Chances, Sherlock Jr.“ (Buster Keaton). Die kann ich nicht oft genug sehen (Frimmel).

Jessica Hausner - Die Vielgelobte

(c) Julia Stix

Als „böses Märchen“ sieht Jessica Hausner ihren dritten Spielfilm Lourdes, der heuer im Wettbewerb der Filmfestspiele Venedig konkurrierte, womit der 1972 in Wien geborenen Tochter des bekannten Malers Rudolf Hausner der nächste Schritt auf der Karriereleiter gelang. Mit Flora (1995) und Inter-View (1999) etablierte sich Hausner in der Gruppe Wiener Filmakademiestudentinnen, die schon in den Neunzigerjahren mit Kurzfilmen auffielen und frischen Wind ins heimische Kino brachten. Um unabhängiger arbeiteten zu können, gründeten Hausner und Kollegin Barbara Albert mit Kameramann Martin Gschlacht (der alle Hausner-Filme seit Inter-View virtuos fotografiert hat) und Regisseur Antonin Svoboda auch eine ambitionierte eigene Produktionsfirma, coop99. Hausners Langfilmdebüt war die Teenagerstudie Lovely Rita (2001), 2004 folgte der ebenfalls preisgekrönte Kunstkrimi Hotel.

Für Lourdes, eine im berühmten Wallfahrtsort gedrehte französische Koproduktion mit internationalen Ko-Stars, hat Hausner ihren reduzierten Stil beibehalten: In einer Abfolge genau komponierter, großteils statischer und distanzierter Bilder erzählt sie, wie eine an den Rollstuhl Gefesselte (Sylvie Testud) an einer Gruppenreise nach ­Lourdes teilnimmt, wo Absurdität und Banalität das Programm dominieren. Als sie (vorläufig?) wie durch ein Wunder geheilt wird, löst das bei den meisten anderen Teilnehmern Neid und Unzufriedenheit aus. Nachdem ihre ersten beiden Spielfilme im Zweitwettbewerb von Cannes liefen, ist Hausner mit ihrer Venedig-Teilnahme im dritten Anlauf nun in der Oberliga der A-Wettbewerbe angekommen: Von der Jury wurde Lourdes zwar übergangen, wiewohl der Film als einer der Favoriten gehandelt wurde, aber es gab einige Nebenpreise (etwa von der internationalen Filmkritik).

Empfehlungen:

„Au voleur“ (Sarah Leonor). Der letzte Film mit dem inzwischen verstorbenen Guillaume Depardieu, neben ihm spielt Florence Loiret Caille – beide empfinde ich als besondere, seltsame, sehr eigenwillige Schauspieler, getriebene Persönlichkei-
ten – und die Regisseurin scheint hier auf diese Qualität zu setzen.

„Singularidades de uma rapariga loura“ (Manoel de Oliveira). Oliveira ist einer der ungewöhnlichsten Filmemacher, die ich kenne. Seine Geschichten bleiben geheimnisvoll, wirken manchmal fremdartig – aber allmählich begreift man, es ist die Fremdartigkeit der Welt, die wir selbst manchmal empfinden, wenn das Vertraute fremd wird und man sich als Gast im Universum fühlt.

Peter Kern - Der Kompromisslose

(c) Julia Stix

Blutsfreundschaft zählt zu den definitiven Höhepunkten dieser Viennale, schon als Gipfeltreffen zweier Giganten des österreichischen Films: Peter Kern und Helmut Berger. Kern, einer der originellsten Regisseure Österreichs, wurde 1949 in Wien-Leopoldstadt geboren: Der ausgebildete Sängerknabe kam Ende der Sechzigerjahre als einer der Stars des Musicals „Hair“ nach Deutschland, dort folgte eine vielfach preisgekrönte Darstellerkarriere bei Bühne und Film (mit Rollen bei Rainer Werner Fassbinder, Hans W. Geißendörfer u. v. a.).

Ab den Achtzigerjahren hat sich Kern zusehends als eigensinniger Autorenfilmer einen Namen gemacht, darunter mit Erfolgsproduktionen wie Domenica (1994); seit seiner Rückkehr nach Österreich vor fast einer Dekade hat er trotz fehlender Budgets mit ungebrochenem Engagement außergewöhnliche Melodramen und Dokumentationen realisiert. Mit Blutsfreundschaft hat er nun ein absolutes Herzens­projekt in etwas größerem Maßstab realisiert – und im einstigen Visconti-Weltstar Helmut Berger eine Traumbesetzung für die Schlüsselrolle gefunden: Der schon leicht jenseitig anmutende Berger brilliert als gealterter schwuler Besitzer einer Wäscherei, der einen Teenager aus Neonazi­zirkeln beherbergt, was schmerzliche ­Erinnerungen und gefährliche Konflikte heraufbeschwört. Kern inszeniert seine Geschichte gewohnt gefühlsintensiv und kompromisslos, was gerade angesichts des Themas enorm erfrischend ist: Kerns Kino war immer schon ein gesundes ­Gegengift zu einer von falscher ­Betroffenheit und höflichem Konformismus dominierten deutschsprachigen Laufbildlandschaft. Und als Bonus absolviert der Filmemacher auch noch einen seiner unbezahlbaren Gastauftritte. Ein großer ­populärer Film aus Österreich.

Empfehlungen:

„Caravaggio“ (Derek Jarman). Tilda Swinton ist eine der großen, magischen Schauspielerinnen. Ich werde mit ihr 2010 in einem Ulrike-Ottinger-Film spielen.
„Corneille Brecht“ (Jean Marie Straub). Straub hat eine Filmsprache erfunden, die in das Innere der Menschen führt. Ich habe durch Straub sehen gelernt.

„Independencia“ (Ray Martin). Es ist merkwürdig, dass Filme erst durch Auszeichnungen Publikum finden. So wie jetzt der philippinische Film (nach der Goldenen Palme für Brillante Mendoza). Ich schau mir fast nur Filme an, die lautlos daherkommen. Denn jede Auszeichnung ist auch oft ein Kompromiss. „Indenpencia“ macht mich neugierig.

Ludwig Wüst - Der Obsessive

(c) Julia Stix

TIPP

Beim Theater hat sich der 1965 in Bayern geborene, seit 1987 in Wien lebende und arbeitende Regisseur Ludwig Wüst längst einen Namen gemacht – breite Beachtung fand etwa seine nicht jugendfreie Inszenierung von Arthur Schnitzlers Traumnovelle im Hotel Orient vor zwei Jahren. Nun sollte er auch als Filmemacher den Sprung schaffen, zumindest, wenn die Welt einigermaßen gerecht ist: Wie sonst gar nicht so vieles im Gegenwartskino vermitteln Wüsts Filme eine leidenschaftliche Obsessivität – das unbedingte Bedürfnis, sie zu machen, ist in jeder Einstellung zu spüren.

Dazu ist Wüst an jeder seiner unabhängigen Produktionen künstlerisch gewachsen: Nach zwei Einstündern – das noch recht spröde Experiment Ägyptische Finsternis (2002) nach Ingeborg Bachmann und das streckenweise sehr intensive psychologische Kammerspiel Zwei Frauen (2006) mit Sabine Haupt – legt Wüst nun mit Koma seine erste abendfüllende Arbeit mit größerem Ensemble vor, und sie ist eine der Entdeckungen dieser Viennale. An einem Ort nahe Wien bereitet die Familie eines Taxifahrers die Feier zum 50. Geburtstag des Vaters  vor – nur der Jubilar bleibt fern. Die ruhig beobachteten Szenen aus einer gestörten Kleinbürgerexistenz werden immer wieder von traumatischen Bildern überlagert: Sie stammen aus einem Gewaltvideo, das schließlich zum unheimlichen Angelpunkt der Geschichte wird. Es bringt die Geister der Vergangenheit zurück, erschüttert die Erstarrung der Gegenwart und bahnt den Weg in die ungewisse Zukunft – als eine verstörende Utopie. Die Kombination von Provokation und Präzision ist bemerkenswert: Wüst rührt beiläufig an Tabu­themen, während er seine stilistischen Wagnisse weiter vorantreibt, etwa seine Faszination für lange Einstellungen und den unverkrampften Umgang mit Dialekt.

Empfehlungen:

„Au hasard Balthazar“ (Robert Bresson). Mein absoluter Lieblingsfilm!

„36 vues de Pic Saint Loup“ (Jacques Rivette). Ich bin ein großer Fan von Rivette, die Vorliebe für lange Einstellungen habe ich wohl durch seine Arbeiten bekommen. Ein Regisseur, der immer viel Zeit braucht und Zeit lässt, sich und dem Zuschauer.

„Ne change rien“ (Pedro Costa). Der Portugiese Costa ist ein radikaler Außenseiter seiner Zunft, der die dunklen grenzwertigen Seiten der menschlichen Existenz erforscht.

„Zanan bedoone mardan“ (Shirin Neshad). Ich bin gespannt auf das Spielfilmdebüt dieser Videokünstlerin; seit ihrer Wiener Ausstellung 2001 verfolge ich ihr Werk.

Viennale 22. 10.–4. 11., Vorverkauf ab 17. 10., www.viennale.at

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

''Un Propehte'', Jacques Audiard, F/I 2009
Film

Viennale besucht Kulturhauptstadt Linz09

Nach dem Ende des Filmfestivals in Wien zeigt die Viennale im Linzer Kino Moviemento eine Auswahl aus dem diesjährigen Programm. Sechs Streifen werden vom 7. bis 12. November zu sehen sein.
Charlotte Gainsboug in ''Antichrist'', Lars von Trier, DK/D/F/S/I 2009
Film

"Antichrist": Die Angst vor dem weiblichen Sex

Lars von Triers neuer Film schockiert mit pornografischen Szenen, betört mit hypnotischen Naturaufnahmen und verstört mit männlichen Albtraumfantasien.
''Bock for President'', Houchang Allahyari, Tom-Dariusch Allahyari, A 2009
Film

Viennale zeigt Ute Bock-Film im besetzten Audimax

Das Wiener Filmfest zeigt sich solidarisch mit den protestierenden Studenten und verlegt die Weltpremiere von "Bock for President" ins Audimax. Kommen kann, wer mag.
Filmkritik

Viennale-Schau: Nacktheit und Kaiserzeit

Sex, Krieg und k.u.k. Komödie: Mit „Early Austrians“ zieht das Filmarchiv Zwischenbilanz zu Österreichs frühem Kino.
Frederic Morton in Andrea Eckerts Doku ''Durch die Welt nach Hause - Die Lebensreise des Frederic Morton''
Film

Viennale: "Ausländer sind die neuen Juden"

Dem Erfolgsautor Frederic Morton ist beim Filmfestival eine Doku gewidmet. Er musste 1940 aus Wien flüchten. Die ausländerfeinlichen Plakate in Wien erinnern den 85-Jährigen an seine Vergangenheit.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.