„Moonlight“: Schnappschüsse aus einem Leben

Drogendealer Juan (Mahershala Ali) kümmert sich um den vernachlässigten Chiron (Alex R. Hibbert).
Drogendealer Juan (Mahershala Ali) kümmert sich um den vernachlässigten Chiron (Alex R. Hibbert).(c) Thimfilm
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„Moonlight“, Ende Februar mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnet, ist ein so unscheinbares wie berührendes Drama über die (homo)sexuelle Selbstfindung eines schwarzen Jugendlichen. Eine Empfehlung.

Mitten in der Nacht läutet das Handy, und der Mann, der mit seinem muskulösen Körper und dem schwarzen Kopftuch aussieht wie ein Gangsta-Rapper, hebt ab; schlafen konnte er ohnehin nicht. Es sei spät, er würde morgen vorbeikommen, versucht er seine Mutter zu vertrösten – doch es ist gar nicht seine Mutter, sondern ein alter Bekannter, den er nie vergessen konnte, obwohl er es immer wieder versucht hat. Und als dieser Bekannte fragt, wie er sich noch an damals erinnere, hört man in der Pause vor seiner Antwort und im leichten Zittern seiner Stimme eine Verletzlichkeit, die er sich nicht mehr erlauben wollte – aber auch eine Sehnsucht, die zu ihm gehört, ob er will oder nicht.

Dies ist einer der berührendsten Momente in Barry Jenkins' unscheinbarem Indie-Drama „Moonlight“, das Ende Februar mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnet wurde. Seine Eindringlichkeit fußt auf dem Erzähltalent des Filmemachers: Als Zuschauer kennt man die Hauptfigur an diesem Punkt besser als sie sich selbst, obwohl einem nur Schnappschüsse aus ihrem Leben präsentiert wurden – in einer dreiteiligen Coming-of-Age-Story, deren Episoden unterschiedlichen Entwicklungsphasen gewidmet sind und die sich zueinander verhalten wie die Strophen eines Gedichts.

Der Drogendealer als Ersatzvater

Dabei stehen immer zwei Kräfte im Widerstreit: Selbstflucht und Verpanzerung auf der einen, Offenheit und Vertrauen auf der anderen Seite. In einer frühen Szene etabliert „Moonlight“ diese Polarität über den Kontrast zwischen einer abgedunkelten Drogenhöhle, in der sich der junge Chiron (Alex R. Hibbert) vor feindseligen Mitschülern versteckt, und dem gleißenden, aber doch sanften Licht, das seine Einsamkeitsfestung durchflutet, als der wohlgesinnte Drogendealer Juan (Mahershala Ali) die Bretter von den Fenstern reißt und den verschreckten Buben zu sich nach Hause einlädt.

Juan wird zu einer Art Ersatzvater für Chiron, nimmt ihm langsam seine Angst, schenkt ihm die Zuneigung, die er von seiner Mutter (Naomie Harris) nur selten bekommt: weil sie ein Junkie ist, abhängig vom Crack, das Juan auf den Straßen Miamis vertickt. Als Chiron das begreift, wendet er sich von seinem Mentor ab, und dieser verschwindet aus dem Film – doch seine Abwesenheit hängt wie ein Schatten über dem nächsten Kapitel, in dem die (homo)sexuelle Selbstfindung der nunmehr jugendlichen Hauptfigur (gespielt von Ashton Sanders) durch den Mangel einer Bezugsperson erschwert wird.

Von Weitem betrachtet wirkt die Handlung von „Moonlight“ wie die Parodie eines Prestige- oder Problemfilms. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Hollywood-Produktionen, die sich mit viel Tamtam anschicken, Perspektiven sozialer und ethnischer Minderheiten auf die Leinwand zu bringen, geht er nicht von Themen aus, sondern von Menschen. Sowohl Jenkins als auch Vorlagenautor Tarell Alvin McCraney wissen, wovon sie reden, sind in vergleichbaren Verhältnissen aufgewachsen, beide hatten eine drogensüchtige Mutter.

Die Inszenierung verzichtet (mit einigen verzeihlichen Ausnahmen) auf Effekthascherei oder dramaturgische Druckmittel. Jenkins ist ein feinfühliger Regisseur, dem Stimmungen wichtiger als Plot Points sind, der Kamera, Licht und betörende Kammermusik gut zu nutzen weiß, der die Kraft einer Geste versteht – etwa jene der Großaufnahme einer Hand, die sich in den Sand vergräbt, beim unverhofften Strandschäferstündchen Chirons mit seinem besten Freund, Kevin. Wong Kar-Wai („In the Mood for Love“) gehört nicht von ungefähr zu Jenkins' erklärten Vorbildern – das wunderbare letzte Kapitel (mit Trevante Rhodes und André Holland als Chiron und Kevin) ist eine einzige Hommage an den kultigen Hongkong-Sensibilisten. Von ihm hat Jenkins auch den Hang zu poetischen Ellipsen: Thrillermeister Michael Mann, der sich in einem kurzen Text fürs Branchenblatt „Variety“ als „Moonlight“-Fan geoutet hat, spricht in diesem Zusammenhang von der Fähigkeit, „zu spät ein- und zu früh auszusteigen“.

Neue schwarze Rollenbilder

Im Übrigen kann man „Moonlight“ als Emblem eines schleichenden Paradigmenwechsels der popkulturellen Repräsentation schwarzer Männlichkeit werten, die sich bislang vor allem im Musiksektor bemerkbar gemacht hat: Introspektion und Selbstzweifel gehören zum Image von Künstlern wie Drake, Chance The Rapper und Kendrick Lamar (dessen Album „To Pimp a Butterfly“ am Anfang von „Moonlight“ indirekt zitiert wird), der pansexuelle R&B-Star Frank Ocean bringt neue Empfindsamkeit ins Genre, das Macho-Ideal wird immer öfter hinterfragt. Der Oscar-Sieg von Jenkins' Film zeugt davon, dass sich nun auch das (Mainstream-)Kino neuen schwarzen Rollenbildern öffnet – dass es einer unabhängigen Billigproduktion aus den Randbezirken der Traumfabrik bedurfte, um den Stein ins Rollen zu bringen, ist allerdings bezeichnend.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2017)

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