Disney: Heiliger Ebenezer, lass die Kasse klingeln!

Jim Carrey
Jim Carrey(c) AP (Jason DeCrow)
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"A Christmas Carol" von Robert Zemeckis mit Jim Carrey läuft kommende Woche im Kino an. Der 3-D-Disney-Animationsfilm reißt den Betrachter ins Geschehen. Special Effects sind das Wichtigste.

Pu der Bär und Pippi Langstrumpf, Moby Dick und Dracula – Weihnachten ist die Zeit des Recyclings von Kinder- und Jugendklassikern. Die eingeführten Marken werden von Generation zu Generation weitergereicht. Millionen neuer Geschichten und Figuren häufen sich alljährlich vor dem staunenden Betrachter auf. Doch die Oldies, die schon Mama und Oma begeisterten, als diese noch ein frisches Hirn hatten, sind immer wieder eine sichere Bank.

Da darf „A Christmas Carol“ von Charles Dickens nicht fehlen. 70 Kino-und TV-Versionen der Geschichte vom geläuterten Geizhals gibt es, darunter eine mit dem Entenhausener Scrooge Dagobert Duck, eine mit den Muppets, eine mit Bill Murray als hartherzigem TV-Boss. Nun kommt eine weitere Disney-Version in 3-D-Technik ins Kino, in der Ebenezer Scrooge so nah und so laut sein berühmtes „Humbug!“ ruft, dass Kinder das Gefühl haben, er sitzt direkt vor oder gar schon auf ihnen.


Jim Carrey spielt in dieser Digitalfassung nicht nur den Geizhals in allen Altersstufen, sondern auch die Geister. Nicht Stimmen aus dem Jenseits bewirken also die Katharsis, der Impuls zum Wandel kommt aus dem eigenen Inneren des alten Mannes. Die religiöse Komponente ist somit ins Psychologische bzw. Esoterische verschoben.

Dazu passt, dass Weihnachten wie andere Feste auch einen heidnischen Hintergrund hat. Speziell in England ist es seit frühchristlicher Zeit mit den ausufernden Feierlichkeiten zur Wintersonnenwende gekoppelt, die Shakespeare in „Was ihr wollt“, auf Englisch „Twelfth Night“ beschrieb: Zu Dreikönig lassen die kühlen Briten sozusagen die Sau raus, fressen, saufen, vergnügen sich, als wäre bereits Karneval.

Der asketische Hagestolz Scrooge ist zwar alles andere als ein Prasser, aber er wird von einem Phäaken besucht: Eine der Schimären häuft in seinem Zimmer traditionelle Köstlichkeiten wie Truthahn, Spanferkel, Würste, Plum Pudding und Punschkannen auf, die im England der industriellen Revolution mit vielen Armen so selten auf den Tisch kamen wie heute in Drittweltländern. Dickens war einer der ersten, der die unverändert brennende soziale Frage thematisierte.

„A Christmas Carol“ hat allerlei kuriose, spannende kulturgeschichtliche Facetten. Wer Lust hat, kann sich die Reclam-Fassung auf Englisch für 4,50 Euro zu Gemüte führen – und erst mal laut lesen. Er wird merken, wie stark Dickens nicht nur in der heftigen Dramatik, sondern auch sprachlich Shakespeare ähnelt. „A Christmas Carol“ ist ein ebenso melodramatisches wie melodiöses Poem. Die plötzliche Verwandlung des giftigen Alten am Ende dürfte manchem Theologen die Haare zu Berge stehen lassen: Erstens erfolgt sie erst nach drastischen Beweisen für das Übersinnliche in Gestalt der Geistererscheinungen, wie sie keiner erlebt. Zweitens geschieht die Mutation so rasant und radikal, dass sie wohl kaum von Dauer sein dürfte.

„A Christmas Carol“ ist eine Mischung aus christlichem Besserungsstück à la „Jedermann“ und Gothic-, Spuk-, Schauergeschichte im Stil von E.A. Poe, E.T.A. Hoffmann, Henry James. Dickens verarbeitete in dem Gelegenheitswerk wie in anderen seiner berühmten Bücher, „Oliver Twist“ – den Polanski 2005 neu verfilmte – oder „David Copperfield“, seine Biografie.

Der spätere Bestsellerautor war der Sohn eines Büroangestellten, der acht Kinder hatte und im Schuldgefängnis von London schmachtete. Charles musste früh verdienen, mit zwölf schuftete er als Hilfsarbeiter. Das Elend der Armen, das er so farbenreich schilderte, kannte er aus persönlicher Erfahrung. Seine große Liebe wurde von den Eltern des Mädchens abgedreht, weil er zu arm war. Als Selfmademan zimmerte Dickens sich mit Schreiben eine beachtliche Karriere. Im Buch klingt seine frühe Enttäuschung an. Es ist aber das Mädchen, das sich von Scrooge abwendet, weil diesem das Geld das Wichtigste ist. In Schüben wird der Alte bekehrt: Erst scheucht ihn sein verstorbener Geschäftspartner Marley in Ketten auf. Dann wird er mit seinem vergangenen und seinem zukünftigen Leben konfrontiert. Wenn schon Dickens mit drastischen Effekten nicht sparte, der neue Film geht weiter: Er benutzt ausführlich den Lieblingskniff zeitgenössischen Kids-Entertainments: die rasende Bewegung. Während Scrooge im Buch versucht, das Licht, das einer der Geister verströmt, mit einem Auslöscher für Kerzen zu tilgen – das Licht breitet sich natürlich ungerührt aus –, befreit sich der helle Schein in der jetzigen Kinoversion mit solcher Macht, dass Scrooge gleich ins Weltall fliegt.

Robert Zemeckis hat Erfahrung mit Animation. 1994 drehte er die mit sechs Oscars belohnte typische US-Real-Wonderworld-Aufstiegssaga „Forrest Gump“ mit Tom Hanks in der Hauptrolle. 2004 griff er beim computeranimierten „Polar Express“ auf die technischen Erfahrungen aus „Forrest Gump“ zurück; „Polar Express“ handelt von einem Buben, der am Weihnachtsabend einen Zug zum Nordpol besteigt, wo er den Weihnachtsmann treffen soll. Hanks spielt den Schaffner, ein minutiöses Double seiner Selbst – wie jetzt Jim Carrey. Das Motto lautet: Ein Star ist toll, eine Comicfigur ist toll, das Tollste aber ist ein Star als Comicfigur. Eine der heißesten Szenen im „Polar Express“ ist, Überraschung, die rasende Fahrt über Schienen, die sich wie eine Hochschaubahn nach oben und unten biegen. Hernach gerät der Zug auf eine Eisfläche, diese bricht, eine Flutwelle jagt hinter den Waggons her, die es in letzter Sekunde wieder auf die Schienen schaffen.

Kein Kidsfilm kommt ohne solche Szenen aus. Sollen die zu Disziplin angehaltenen Kinder sich wenigstens virtuell an entfesselter Bewegung, Katastrophen erfreuen? Aber so oft dasselbe? Ein weiterer neuer Disney-Film, „G-Force, Agenten mit Biss“, zeigt rasende Nager, „die es lieben“ herumgeschleudert zu werden. Hoffentlich verwechseln die Kinder nicht die echten Meerschweinchen mit den virtuellen, falls sie so ein possierliches Tierchen unter dem Weihnachtsbaum finden.


Die Simulation wird jedenfalls immer perfekter. Da reichen sich Film und Games die Hand, was wohl auch der Sinn ist, siehe Angelina Jolie und Lara Croft. Während auf der Internetplattform Youtube der Teaser für „A Christmas Carol“ läuft, blinkt unmittelbar darunter die Werbung für ein angeblich kostenloses Vampirspiel.

Was gibt es noch zu „A Christmas Carol“ zu sagen? Das Ambiente erinnert an Legionen ähnlicher angelsächsischer Storys, natürlich auch an die „Harry Potter“-Serie. Mit Tiny Tim ist, bereits bei Dickens, ein zentraler Punkt im Rührstück verankert: Der jüngste Spross der kinderreichen, armen, aber dennoch glücklichen Familie von Scrooges erst geschundenem, dann beglücktem Clerk Cratchit ist schwach und dem Tode geweiht. In der Realfassung mit dem wunderbaren schottischen Schauspieler Alastair Sim (1951) springt Tim am Schluss in die Arme seines charakterlich veränderten Gönners – und es ertönt „Stille Nacht, heilige Nacht“ analog zum „God bless us, every one!“ im Buch. Sim sprach den Scrooge erneut in einer Zeichtrickfassung 1972, in der Scrooge dem Schauspieler nachempfunden ist. Das Kopieren von Stars für Comicstorys war schon damals, unter viel weniger glamourösen technischen Bedingungen als heute, ein Ziel.

Kein Film ohne Side Stories: In diesem Fall kommt sie von Cary Elwes, der Bob Cratchit spielt und, wie er sagt, mit jenem Mann verwandt ist, der Dickens' Vorbild für Scrooge war. Noch was? Heiliger Ebenezer, bitte für uns, auf dass die Kinokasse klingelt!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2009)

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