„Aquarius“: Wut auf Brasiliens korrupte Eliten

Die Filmdiva Sônja Braga spielt Clara, eine 65-Jährige, die in der Stadt Recife wohnt.
Die Filmdiva Sônja Braga spielt Clara, eine 65-Jährige, die in der Stadt Recife wohnt. (c) alphaville filmverleih/sbs productions
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Kleber Mendonça Filho trifft mit „Aquarius“ einen Nerv bei seinen Landsleuten: Eine Rentnerin aus der Mittelschicht verteidigt ihre Eigentumswohnung gegen Immobilien-Haie.

Als „Aquarius“ in Brasiliens Kinos kam, lag die Amtsenthebung von Dilma Rousseff, der demokratisch gewählten Präsidentin des Landes, gerade einmal 12 Stunden zurück. Ohne ihr eine Straftat nachgewiesen zu haben, war es der rechten Mehrheit im Parlament gelungen, den konservativen Vize-Präsidenten Michel Temer als Staatschef zu installieren. Schon ein halbes Jahr zuvor (Rousseff war eben suspendiert worden) erklärte das Team um Regisseur Kleber Mendonça Filho dieses Vorgehen auf den Filmfestspielen von Cannes – „Aquarius“ lief im Wettbewerb – zum Staatsstreich. Die neuen Machthaber versahen den Film mit der höchsten Altersfreigabe und reichten ihn nicht für den Auslands-Oscar ein.

Rechte Kommentatoren beschimpften Mendonça als linksradikalen Wirrkopf, riefen zum Boykott des Films auf, der wegen der Kontroverse erwartungsgemäß ein Hit wurde – vor allem vielleicht wegen des internationalen Skandals auf dem roten Teppich, aber bestimmt auch deshalb, weil die plakativ anmutende Geschichte um eine Rentnerin aus der oberen Mittelschicht, die ihre Eigentumswohnung gegen raffgierige Immobilienunternehmer verteidigt, einen allgemeinen Nerv traf. Zumindest schien „Aquarius“ ein geeignetes Ventil für die Wut auf die korrupten Eliten anzubieten. Das Publikum, meinte Mendonça später, applaudierte immer, wenn Sônia Braga (in Brasilien eine berühmte Film- und TV-Diva) in der Rolle der Clara scheinheiligen Geschäftsleuten, die sie aus ihrer Wohnung am Strand von Recife hinausekeln wollen, die Stirn bietet.

Der alte Nerd und die einstige Sexgöttin

In einer selbstbewussten Frau, die sich mit stolzer Beharrlichkeit zur Wehr setzt, eine Identifikations- oder Vorbildfigur zu sehen, ist natürlich nicht schwer. Wenn sie darüber hinaus alle Gegensätze innerhalb des liberalen Spektrums in der Gesellschaft versöhnt, ist es sogar kinderleicht. Die intellektuelle Plattenkritikerin mit der körperbewussten Vitalistin. Den altgewordenen Nerd mit der einstigen Sexgöttin. Nicht mal ihre Heimatverbundenheit, ihr Familiensinn oder ihre Liebe zu alltäglichen Ritualen stehen im Widerspruch zu ihrer liberalen Grundhaltung. Halb bürgerlich, halb hippiemäßig, gibt sie dadurch die perfekte Post-68er-Ikone ab.

Dem Film tut diese Heiligenverehrung allerdings nicht immer gut. Obwohl es erstaunlich ist, in welch intime Beziehung man als Zuschauer zu Clara versetzt wird, fühlt man sich von ihrer ununterbrochenen Präsenz doch zuweilen bedrängt. Überdies ist sie in allem einfach zu makellos. Das langweilt auch. War also die Aufregung um den Film berechtigt? Wenn man von ein paar plumpen Zuspitzungen absieht – eher nicht.

Denn streng genommen ist „Aquarius“ nur teilweise ein politischer Film. Wenn Clara auf dem Friedhof, wo ihr Gatte begraben liegt, beobachtet, wie die Knochen eines Toten aus einer Grube gezogen werden, erweist er sich auch als ein existenzialistisches Drama. Wenn sich aus der einleitenden Rückblende in die ausgehenden 1970er-Jahre nach und nach ein grobes Verständnis für ihr vorheriges Leben herausschält, mutet er hingegen wie eine kühne Reflexion philosophischer Erinnerungskonzepte an. Seit Marcel Proust war eine Reminiszenz auf das Gedächtnis selbst selten so poetisch, spannend und klug.

Am Anfang, wenn das Zeitkolorit noch in den nostalgischsten Farben schimmert, reicht schon ein unscheinbares Möbelstück, um die Erinnerungen der Tante an einen sexuellen Schlüsselmoment in ihrem Leben zu mobilisieren. Im Handlungsverlauf der nachfolgenden Geschichte, die 35 Jahre später spielt, steht es in der Wohnung, die inzwischen von Clara bewohnt wird, immer noch an derselben Stelle. Und zieht von dort (ein wunderbarer Einfall) weiterhin den Blick der Kamera auf sich.

Mit großem Geschick wird kein einziges Bezugsobjekt der Heldin als banal dargestellt. Das Staunen darüber, dass an jedem ein Bündel von Erinnerungen hängt, die über Generationen hinweg geteilt, weitergetragen und bewahrt werden können, überwiegt doch immer. Die Baumagnaten verlangen von Clara, diese Erinnerungen zu vergessen. Eine illegitime Forderung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2017)

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