"To the Bone" auf Netflix: Ein Film, der Magersucht verherrlicht?

Ein unkonventioneller Arzt (Keanu Reeves) will der magersüchtigen Ellen (Lily Collins) helfen, ihre inneren Dämonen zu besiegen.
Ein unkonventioneller Arzt (Keanu Reeves) will der magersüchtigen Ellen (Lily Collins) helfen, ihre inneren Dämonen zu besiegen. (c) Gilles Mingasson/Netflix
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Der neue Netflix-Film sei gefährlich für Menschen, die zu Essstörungen neigen, warnen Psychiater. Gesehen haben sie bisher aber nur den Trailer. Der Film selbst erzählt einfühlsam von Heilung und Hoffnung.

Zum zweiten Mal in wenigen Monaten ist es dem Streamingdienst Netflix gelungen – oder passiert –, mit seinem Programm eine hitzige Debatte auszulösen. Der im März erschienenen Teenie-Dramaserie „13 Reasons Why“ (deutscher Titel: "Tote Mädchen lügen nicht") über eine Selbstmörderin, die sich posthum an ihren mobbenden Mitschülern rächt, wird vorgeworfen, dass sie Suizid romantisiere und Jugendliche zu Nachahmungstaten motivieren könnte. Ärzte- und Lehrerverbände weltweit warnten vor der Serie, auch das österreichische Bildungsministerium hat nun Empfehlungen veröffentlicht, wie im Klassenzimmer mit ihr umgegangen werden soll.

Ein neuer Film, der am Freitag auf Netflix erscheint, ließ ähnliche Vorwürfe laut werden: „To the Bone“ erzählt von einer jungen magersüchtigen Frau, die versucht, ihre Krankheit zu überwinden. Petitionen im Internet fordern – teils auf sehr emotionale, fast hysterische Art – ein Verbot des Films, Psychiater äußern Kritik. Menschen, die an Essstörungen leiden oder litten, diskutieren in den sozialen Medien, ob sie sich den Film anschauen sollen: Der Trailer erinnere sie visuell an jene „Thinspiration“-Bilder, mit denen sich Leute, meist junge Mädchen, im Netz zum Abnehmen anstacheln, schreibt eine Frau, bei der als Jugendliche Anorexie diagnostiziert wurde. Der Trailer habe sie zu den selben Denkmustern zurückgebracht, die sie beherrschten, als sie ganz unten war, schreibt eine andere.

Hauptdarstellerin musste abnehmen

Vor allem zwei Aspekte betrifft die Kritik, die Experten formulieren: Der Film würde Essstörungen verherrlichen, ihnen eine Aura von Glamour verleihen oder sie zumindest trivialisieren. Und er könnte Menschen, die an einer Essstörung litten oder gerade im Heilungsprozess sind, zurückwerfen („Triggering“). Die Macher des Films entgegnen, diese Risiken zu kennen und daher behutsam mit dem Thema umgegangen zu sein. Dieses sei in der öffentlichen Wahrnehmung von Mythen und Vorurteilen belastet, genau deshalb wollten sie ein authentisches, differenziertes Bild zeigen, sagen sie. Dazu in der Lage sind sie jedenfalls: Die Regisseurin Marti Noxon hatte selbst seit Teenagerjahren mit Essstörungen zu kämpfen, ebenso die Hauptdarstellerin Lily Collins (die Tochter von Phil Collins), die für die Rolle nun erneut abnehmen musste – auf eine kontrollierte, gesunde Art, wie sie versichert. Zum Vorbild für Magersüchtige wurde sie trotzdem: „Kann wer ihren Diätplan veröffentlichen?“, ist in einem „Pro Ana“-Forum (Pro Anorexie) zu lesen.

To the bone
To the bone(c) Gilles Mingasson/Netflix

Und der Film selbst? Der ist vor allem ein einfühlsames Plädoyer für Heilung und Hoffnung. Die 20-jährige Ellen (überzeugend: Collins), ein trotziges Mädchen mit trockenem Humor und einer dysfunktionalen Familie, hat bereits mehrere erfolglose Behandlungen ihrer Anorexie hinter sich, als ihre Stiefmutter sie zu einem Spezialisten schickt. Dieser (Keanu Reeves), ein ungezwungener Typ mit einem Faible für Kraftausdrücke, nimmt Ellen in seine betreute WG auf, wo sie in Gesellschaft einer bunten Runde (Essstörungen betreffen nicht nur hübsche, junge, weiße Mädchen, auch das zeigt der Film) ihre inneren Dämonen besiegen lernen soll.

Es geht in „To the Bone“ offensichtlich nicht darum, das Thema für dramatische Effekte auszuschlachten oder dünne Körper auszustellen (auch wenn bisweilen verstörend herausragende Schlüsselbeine und Wirbelsäulen zu sehen sind). Anorexie ist hier durchwegs eine Krankheit, die Ellens Existenz und ihre Familie bedroht, kein hippes Lifestyle-Gimmick, als das Alkohol- und Drogensucht in Filmen oft stilisiert werden. Die Faszination, die abgründiges, selbstzerstörerisches Verhalten auf Menschen haben kann, und die Rolle, die Medien dabei spielen, werden thematisiert: Man erfährt, dass die Zeichnungen auf Ellens Blog ein Mädchen in den Selbstmord getrieben haben, und man sieht, wie sehr Ellen von Schuldgefühlen geplagt wird.

Die hässlichen Seiten der Anorexie

Ihr emotionales Leid, ihre innere Leere stehen im Mittelpunkt, und auch wenn sie durchaus Sympathien weckt, wirkt es wenig erstrebenswert, ihr nachzueifern. Auch weil „To the Bone“ die hässlichen, nicht „Instagram“-tauglichen Seiten der Magersucht zeigt: Die unelegante Ellen sieht nicht ansatzweise wie ein Model aus. Man erfährt, dass sie sexuell komplett unerfahren ist – dass es sie vor Berührungen gar ekelt. Ihr Arzt spricht sie offen darauf an, dass sie haarig ist: Eine Reaktion des Körpers, der sich bei schwindendem Fettgewebe gegen Kälte schützen will.

Ist „To the Bone“ also eh unbedenklich, gar heilungsfördernd? Das müssen letztlich Experten diskutieren. Wenn sie den Film auch gesehen haben: Denn bisher bezog sich ihre Kritik lediglich auf den Trailer. Der zeigt, flott geschnitten, ein cooles, geheimnisvolles dünnes Mädchen in lässigen Szenen – fast mystisch mutet da der Moment an, in dem Ellen in einer Bahnhofs-Wartehalle in Ohmacht fällt. Der Film selbst ist ästhetisch und in seiner Wirkung ganz anders: Ruhig, kühl, vergleichsweise farblos, Feelgood-Charakter gleich null. Braucht es vielleicht eine Trailer-Warnung?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2017)

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