Der Kammer-Krimi als Blockbuster

Im Orient-Express reist ein illustres Schauspielerensemble (im Bild: Johnny Depp).
Im Orient-Express reist ein illustres Schauspielerensemble (im Bild: Johnny Depp).(c) Twentieth Century Fox
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Hercule Poirot darf Agatha Christies „Mord im Orient-Express“ wieder auf der großen Leinwand aufklären: Von und mit Kenneth Branagh, der den Klassiker unnötig aufbauscht.

Der große Detektiv, diese Galionsfigur des klassischen Kriminalromans, ist längst aus der Mode gefallen. Feinsinnige Vernunftmenschen, die im Ohrensessel Pfeife rauchend Fälle knacken, schrullige Gentlemen, die mit Suggestivfragen Geständnisse aus Hautevolee-Halunken herauskitzeln, das wirkt hoffnungslos altmodisch. Ohne menschliche Makel kommt man heute nicht in den Ermittler-Klub. Detektive müssen rauchen, trinken, ehebrechen und ihren Beruf verfluchen: So steigert man das Identifikationspotenzial. Und mit einem simplen Mord ist es auch nicht mehr getan: Gräueltaten und Verschwörungen stehen auf dem Programm – am besten in dieser Reihenfolge.

Klar: Sherlock Holmes, der alte Haudegen, erlebte unlängst seine x-te Auferstehung im TV. Allerdings wurde die Figur in „Sherlock“ zum moralisch anfechtbaren, allwissenden Soziopathen hochgejazzt, um sie in eine Reihe mit populären Fernseh-Antihelden wie Dexter und Dr. House zu stellen. Zumindest in Ansätzen trug Arthur Conan Doyles berühmteste Schöpfung die Anlagen für diese Neuerfindung in sich. Von Hercule Poirot, Agatha Christies (spitz-)findig-selbstverliebtem belgischen Meisterschnüffler, kann man das nicht behaupten. Das größte Rätsel um die jüngste Kinofassung von Christies wohl bekanntestem Poirot-Roman „Mord im Orient-Express“ ist folglich jenes um ihre Existenz. Eigentlich gibt es nur zwei mögliche Antworten: Entweder greift Hollywood in seiner verzweifelten Suche nach Stoffen mit hohem Wiedererkennungswert mittlerweile nach Strohhalmen, oder – oder? Na gut: Es gibt nur eine mögliche Antwort.

Die Ironie daran: Gerade weil der Krimi Kultstatus genießt, stellt auch seine Aufklärung kein großes Geheimnis mehr dar. Damit geht bereits ein großer Teil des Reizes flöten. Aber natürlich kann die Aufbereitung Abhilfe schaffen. Sidney Lumet fokussierte in seiner sehenswerten Adaption von 1974 auf Atmosphäre und Schauspielkunst. Der Südkoreaner Park Chan-wook variierte das Motiv in seinem Rache-Reißer „Lady Vengeance“ – und kehrte dessen finstere Seiten hervor. Kenneth Branagh – Schauspiel-Sir, Regisseur sowie Spezialist für Shakespeare (und neuerdings auch Superhelden, siehe „Thor“) – versucht, einen Blockbuster daraus zu machen.

Das Ensemble dafür hat er. Zwar kein „Who's Who in the Whodunit“, wie der Trailer zum Lumet-Film (mit Lauren Bacall, Sean Connery, etc.) einst versprach, aber doch ganz ansehnlich. Judi Dench als russische Grande Dame, Penélope Cruz als spanische Missionarin, Michelle Pfeiffer als redselige Witwe – nicht alle Figuren entsprechen der Romanvorlage. Der Afroamerikaner Leslie Odom Jr. etwa bringt in der Rolle des (im Roman weißen) Colonel Arbuthnot das Thema Rassismus aufs Tapet, und Willem Dafoe darf als österreichischer Professor einen neuen Akzent erproben (und in der Synchro für einen Sahne/Obers-Witz sorgen). Johnny Depp gibt eine zurückhaltende Variation seines Grusel-Gangsters aus „Black Mass“.

Digitalkulissen zerstören Retro-Charme

Und dann wäre natürlich noch Branagh selbst als Poirot. Christie beschrieb ihren Detektiv als rundlichen Eierkopf, eine Witzfigur, die man leicht unterschätzt. Branaghs Auftreten ist vergleichsweise stattlich und weltmännisch. Seine ganze Exzentrik liegt im (zugegebenermaßen famosen) Schnurrbart – und im Gekicher bei der Dickens-Lektüre. Als Zufallspassagier im Zug von Istanbul nach Calais wird er von der Mannschaft zu Rate gezogen, als eine Lawine die Weiterfahrt versperrt – und eine Leiche an Bord gefunden wird. Einer der Fahrgäste muss es gewesen sein. Aber wer?

Leider gönnt sich der Weg zur Auflösung zu viele Abkürzungen und Abschweifungen. Während die Verhöre von Verdächtigen zum Teil in Montagesequenzen verdichtet werden, fügen die Filmemacher anderswo verknappte Actionszenen bei, um zeitgenössischen Großkino-Ansprüchen Genüge zu tun. Statt die Enge der Waggons für Stimmungsaufbau zu nutzen, ergeht sich die Kamera in unnötigen Vogelperspektiven und Digitalflügen, und obwohl die satte Ausstattung der Interieurs besticht, machen die computeranimierten Gebirgskulissen jeden Retro-Charme zunichte. Auch wenn sich der Film kraft seiner Krimi-Dramaturgie und dem illustren Typenfundus erfreulich von anderen Multiplex-Platzhirschen unterscheidet: In diesem Limbus zwischen Alt und Neu gelingt es außer Branagh keinem der Darsteller, einen wirklich bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Der Schlusstwist sei hier nicht verraten – sofern es doch noch jemanden gibt, der ihn nicht kennt. Nur so viel: Gerade seine ethische Zweischneidigkeit, an sich perfekt geeignet für spannende Schwerpunktsetzungen, bleibt weitgehend unausgelotet; Stattdessen wird das Ganze melodramatisch aufgebauscht. Eines muss man Branagh lassen: In seinen Händen wird alles zu Shakespeare. Nur ist das nicht immer begrüßenswert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2017)

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