Sherlock Holmes: Detektiv im Drogenwahn

Robert Downey Jr. und Jude Law
Robert Downey Jr. und Jude Law(c) Warner
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Für seine Rolle als Sherlock Holmes erhielt Robert Downey jr. eben den Golden Globe: Er übersteht auch als einziger unbeschadet ein Spektakeldebakel.

Als „berechtigten Mord“ bezeichnete der schottische Arzt und Autor Sir Arthur Conan Doyle (1859–1930) die literarische Beseitigung seiner berühmtesten Kreation nur sechs Jahre nach deren erstem Auftritt: In der Geschichte „Sein letzter Fall“ (Originaltitel: „The Final Problem“) ließ Conan Doyle 1893 seinen Meisterdetektiv Sherlock Holmes beim Kampf mit Erzfeind Professor Moriarty in die Schweizer Reichenbachfälle stürzen. „Wenn ich ihn nicht getötet hätte, hätte er mich getötet“, rechtfertigte sich der Schriftsteller: Die Produktion der Holmes-Abenteuer hätte zu viel Lebenszeit beansprucht.

Der darauf folgende öffentliche Aufschrei (und wohl auch eine gewisse Leere auf seinem Bankkonto) vermochte Conan Doyle aber umzustimmen. 1901 begann er mit der Arbeit am (vor dessen Tod spielenden) Holmes-Roman „Der Hund der Baskervilles“: ein großer Erfolg. Prompt folgte 1903 die spektakuläre Auferstehung des Detektivs in der Erzählung „Das leere Haus“. In der zweiten Schaffensperiode winkte dem Londoner Detektiv ein wesentlich gnädigerer Abgang: Er wird schließlich Bienenzüchter in Sussex, lässt sich aber zweimal reaktivieren.

Insgesamt 56 Kurzgeschichten und vier Romane verfasste Conan Doyle um Holmes, dessen Weiterleben in der breiten Öffentlichkeit haben aber nicht sie allein bestimmt: Das bekannte Erscheinungsbild des Detektivs – groß, hager, spitze Gesichtszüge, als charakteristische Kleidungsstücke die Deerstalker-Jagdkappe und der Inverness-Mantel mit Überwurf – entstammt den Zeichnungen von Sidney Paget, die den Erstdruck der Geschichten im renommierten britischen Literaturmagazin „The Strand“ begleiteten. Fast sofort folgten Stücke und Filme, Holmes wurde eine der populärsten Kunstfiguren: Das Referenzwerk „The Universal Sherlock Holmes“ listete 1995 über 25.000 Produktionen und Produkte mit Holmes-Bezug auf. Dabei trug gerade die Glaubwürdigkeit von Conan Doyles in sich geschlossener Welt zur Faszination bei: Es hielt sich die Legende, dass Holmes wirklich lebte, unterstützt von Spielereien schlauer Sherlockianer. Der Spezialist William S. Baring-Gould schrieb sogar 1962 eine Biografie: „Sherlock Holmes of Baker Street“.


Elementar, mein lieber Watson. Was Verfilmungen angeht, kann nur Graf Dracula mit den gut 200 Auftritten des Ermittlers aus der Baker Street 221b konkurrieren: Seinem knapp einminütigem Leinwanddebüt in den Studios von Thomas Alva Edison unter dem Titel Sherlock Holmes Baffled (1900) folgten alsbald Stummfilmserials, u.a. in Dänemark, den USA und England.

Bekannte Akteure, die zunächst den Detektiv verkörperten, waren John Barrymorein Sherlock Holmes (1922), im Tonfilm dann Debütant Raymond Massey in The Speckled Band (1931), nach der Geschichte „Das gefleckte Band“, bevorzugt sowohl von Conan Doyle selbst wie seiner offiziellen Anhängerschaft, den „Baker Street Irregulars“. Bald jedoch ließ der quintessenzielle Kino-Holmes alle seine Vorgänger (inklusive der Sherlock-Seriendarsteller der Dreißigerjahre, Clive Brook und Arthur Wontner) in den Schatten treten: Der Brite Basil Rathbone prägte in einer Serie von 14 feinen Filmen das Leinwandimage des Detektivs, dazu legte Nigel Bruce als devot-dämlicher Gefährte Dr.Watson den Grundstein für die meist alberne Darstellung dieser literarisch keineswegs läppischen Figur.

Rathbone ähnelte Pagets originalen Holmes-Illustrationen und traf (auch in 219 Radiosendungen!) exakt den überheblich-überlegenen Ton, mit dem der Detektiv Dialogpointen setzte. Die Werktreue der Filme war dabei wechselhaft. In der viktorianischen Ära spielten überhaupt nur die ersten zwei, beide von 1939: Der Hund von Baskerville und Die Abenteuer des Sherlock Holmes, durch den die Holmes-Phrase schlechthin erst zum geflügelten Wort wurde. Die Formulierung „Elementary, my dear Watson“ ist in diesem Wortlaut bei Conan Doyle nämlich nirgendwo zu finden, sondern kam über Bühne und Film zu Ruhm. Darunter im preiswerteren, ergo in die Gegenwart verlegten Dutzend Detektivabenteuer, das zwischen 1942 und 1946 folgte: Rathbones Holmes leistete darin seinen Beitrag zum Krieg, indem er Agenten der Achsenmächte überlistete.

Jene geniale Gabe für logisches Folgern, die Holmes zum Inbegriff kriminalistischer Ratio machte, blieb aber stets intakt. Das galt auch für das Gros späterer Neudeutungen – egal, welche Freiheiten sie sich sonst nahmen: Peter Cushing kombinierte weiter mit kühlem Kopf, während er in der farbenprächtigen, wildromantischen Schauermär Der Hund von Baskerville (1959) von Genremeister Terence Fisher durch nebelverhangene Hochmoore stapfte. In Sherlock Holmes' größter Fall(1965, Originaltitel: A Study in Terror)überführte John Neville als Holmes gar Jack the Ripper. Der parallel zur literarischen Vita des Detektivs aktive Serienmörder wurde zweimal von Holmes zur Strecke gebracht: In Bob Clarkes ambitioniertem unterschätzten Krimi Mord an der Themse(1979, Original: Murder by Decree) jagte ihn Christopher Plummer. James Mason unterstützte Holmes als ungewohnt tatkräftiger Watson.

Zu dem Zeitpunkt war Holmes im Kino eher zur komischen Figur geworden: Nachdem einer der schönsten Filme Billy Wilders floppte – sein mild-magisches Privatleben des Sherlock Holmes(1970) mit Bühnendarsteller Robert Stephens in der Titelrolle wurde später rehabilitiert –, ging es mit der Würde des Meisterdetektivs steil bergab. George C.Scott brillierte in Der verkehrte Sherlock Holmes (They Might Be Giants, 1971) als Irrer, der sich für Holmes hält – im Gegensatz zum deutschen Krimikomödienklassiker Der Mann, der Sherlock Holmes war (1937), in dem Hans Albers und Heinz Rühmann wenigstens echte, wenn auch erfolglose Privatdetektive spielen, die sich zur Auftragssteigerung als berühmtes Ermittlerduo ausgeben.


Slapstick und Schürzenjagd. Die restlichen Siebzigerjahre-Sherlocks? Eine Slapstickorgie um Gene Wilder als Sherlock Holmes cleverer Bruder (1975), der Detektiv im Drogenwahn – und auf Freuds Couch! – in Kein Koks für Sherlock Holmes (The Seven-Per-Cent Solution, 1976) oder die Comedy-Stars Peter Cook und Dudley in einer verunglückten Version von Der Hund von Baskerville (1978). Die Teenagerfilmwelle der Achtziger brachte erst einen adoleszenten Holmes in Das Geheimnis des verlorenen Tempels (Young Sherlock Holmes, 1985). In der Satire Genie und Schnauze (Without a Clue, 1988) wurde der Detektiv schließlich – immerhin in Gestalt von Michael Caine– gar als Trunkenbold und Schürzenjäger enttarnt, von Watson nur zur Wahrung des Status quo engagiert: Der gute Doktor ist hier das Genie. Holmes in bewährter Manier war längst eine TV-Angelegenheit: Seit den Fünfzigerjahren gab es viele Holmes-Fernsehserien, z.B. in den USA (da aber nur eine, 1954), Deutschland, Russland und zuletzt wieder in England und Kanada.

Angesichts der wechselhaften Historie der Figur sollte einen wenig wundern. Und doch ist anlässlich des ersten Holmes-Kinofilms seit über 20 Jahren – abgesehen von Obskuritäten aus China und Brasilien – die Frage unumgänglich: Warum Sherlock Holmes?

Offenbar hat die wissenschaftliche Methodik des 19. Jahrhunderts ausgedient: Der literarische Holmes war quasi deren Apotheose – durch genaue empirische Beobachtung und logische Schlussfolgerung brachte er Sinn in ein chaotisches Universum. Im 21.Jahrhundert ist er einfach ein austauschbarer Superheld, der zur allgegenwärtigen düsteren Unübersichtlichkeit beiträgt, wiewohl ihn Sympathieträger Robert Downey jr. als seltsam sorglosen, sehr unbritischen Bohemien anlegt: Das Studiointeresse am Stoff erklärte sich denn auch rätselhafterweise aus der „Ähnlichkeit zu Batman Begins“. Die Konzeption der Hauptfigur folgt jedoch eher vage dem Auslaufmodell James Bond, vor dessen überfälliger Frischzellenkur: schmähführend und schlagkräftig. Seine angebliche Intelligenz stellt der neue Holmes dagegen unter Beweis, indem er blitzschnell die Schläge fürs Boxen mit bloßen Fäusten berechnet oder in Da Vinci Code-Manier Erklärungen herunterrattert, die zwar eilig und eilfertig illustriert, aber nie tatsächlich deduziert werden.

Passt perfekt zum Inszenierungsstil von Guy Ritchie, zu Recht bekannter als Exmann von Madonna denn als Filmemacher: Seine hirnlos-hyperaktive Vision von Holmes könnte auch „C.S.I.: London 1891“ heißen. Allerdings wirkt der Schauplatz wie eine Raubkopie der Düsterstadt des rezenten Jim-Carey-Vehikels AChristmas Carol. Dafür ist die Konstruktion der Handlung ein Witz, der Conan Doyles sorgfältigen Rätseln spottet: Erst stoppt Holmes ein satanisches Ritual, hat es dann offenbar mit übernatürlichen Kräften zu tun – bis am Schluss alles „rational“ erklärt wird und man im Namen der Vernunft wünscht, die Autoren hätten es beim Magical-Mystery-Nonsens belassen.


War Watson eine Frau? Allein Downey jr. übersteht das Spektakeldebakel unbeschadet – man mag ihm nicht einmal den Golden Globe für die Rolle missgönnen –, weil er allen Schwachsinn gelassen-ironisch ignoriert. Eine angemessene Reaktion bei einem Film, dessen bleibendste Anspielung auf den originalen Holmes unfreiwillig ist: Die paar Zitate der Dialogstellen von Conan Doyle oder Szenen alter Filme – wie Rathbone untersucht Downey jr. mit der Geige den Einfluss von Tonleitern auf die Bewegung von Fliegen, und von Mord an der Themse ist nicht nur der Abgang des Bösewichts entlehnt – wirken wie postmoderne Lippenbekenntnisse. Ausgerechnet ein offensichtliches Hollywood-Diktat erinnert dafür an eine Sternstunde der Holmes-Forschung. Das Verhältnis des Detektivs zum wohlgestalteten Watson (Jude Law) muss den Traumfabrikregeln des Buddy-Movies folgen: Watsons baldige Heirat führt zu regelrechten Eifersuchtsexzessen von Holmes.

Ein Schelm, wer dabei an ein ironisches Meisterstück von Krimiautor Rex Stout denkt: Der Schöpfer des zweitberühmtesten detektivischen Duos (Nero Wolfe und Archie Goodwin) verstörte die „Baker Street Irregulars“ 1941 mit einem inspirierten Vortrag. Holmes-Experten pflegen seither den Ausdruck „the Stoutian heresy“: Stouts Ketzerei. Dabei folgte dessen Rede virtuos der kombinatorischen Methode von Holmes, um anhand von raffiniert herausgepflückten Details der Bücher ein absurdes Argument zu beweisen: „Watson Was a Woman“ – all die Erzählungen über den angeblichen Doktor hätten nur dazu gedient, sein hausfrauliches Verhältnis zu Holmes zu tarnen!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2010)

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