"Shutter Island": Kino als Ort des Grauens und der Gnade

Shutter Island
Shutter Island(c) AP (Concorde)
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Symphonie des Schreckens: Martin Scorseses grandioser Paranoia-Thriller mit Leonardo DiCaprio. Zum visuellen Stakkato gesellt sich eine unglaubliche Soundtrackcollage.

Aus dem Nebel löst sich eine Fähre: die einzige Verbindung zu Shutter Island, einer Insel vor der Küste von Massachusetts, wo eine Anstalt für geistesgestörte Verbrecher liegt. US-Marshal Teddy Daniels (Leonardo DiCaprio) ist mit seinem Kollegen (Mark Ruffalo) gekommen, um nach einer Kindsmörderin zu suchen, die aus ihrer Zelle verschwunden ist. Nicht nur die Insassen verhalten sich seltsam: Einer der Leiter (ein Patrizier mit satanischem Ziegenbart: Ben Kingsley) äußert sich zur Angelegenheit bemerkenswert beiläufig, widmet sich lieber wortreich seiner Vision einer „moralischen Fusion aus law and order und klinischer Fürsorge“.

Am Eingang der düsteren Anlage sind die beiden Justizbeamten gezwungen worden, ihre Dienstwaffen abzugeben. Die Gittertür fällt donnernd hinter ihnen zu, prasselnder Regen und Blitze begleiten die auf der Stelle tretenden Ermittlungen, und Marshal Daniels erweist sich als erstaunlich unzuverlässiger Führer durch das Labyrinth verwirrender Eindrücke. Er ist auch aus Privatinteresse hier, und unvermittelt überwältigen ihn Halluzinationen. Seine tote Frau (Michelle Williams) in ihrer brennenden Wohnung, bis ihr verkohlter Körper unter seiner Berührung zu Asche zerstiebt. Seine Beteiligung an der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau und einer spontanen Massenhinrichtung von deutschen Aufsehern inmitten der toten Körper von Insassen, die wie Skulpturen im Eis wirken: als wären sie aus den Waggons geflossen und erstarrt. Die Schreckensvisionen verrinnen mit den seltsamen Konfrontationen in der Anstalt: Als sich der zweite Anstaltsleiter (Max von Sydow) als deutscher Freudianer entpuppt, verdächtigt ihn Daniels, Menschenversuche in KZ-Manier durchzuführen. Die durchnässte Kleidung des Marshalls ist da schon gegen die Uniform eines Insassen ausgetauscht worden. Alle sind verdächtig.

Soundtrack von Brian Eno bis Ligeti

Weniger die Auflösung der Rätsel als ihre Wirkung ist das Thema von Martin Scorseses Shutter Island: ein Psychotrip in den zerrütteten Geist der Nachkriegsjahre. Privattragödien und Gewaltverbrechen wie aus Zeitungsschlagzeilen oder Pulp-Fiction-Reißern lässt Scorsese kühn mit den Ängsten und Traumata der frühen Fünfziger kollidieren: Mit Daniels wird der Zuseher durch Verschwörungsszenarien zwischen Kommunistenjagd und Weltkriegserinnerungen gejagt, die vor einem buchstäblich ablaufen wie ein Film. Und den orchestriert Scorsese mit bombastischer Detailvirtuosität: Strudel satter Signalfarben künden vom nahen Unheil, Schnittfolgen heben die Regeln der Vernunft aus den Angeln, untergraben jede Gewissheit. Zum visuellen Stakkato gesellt sich eine unglaubliche Soundtrackcollage: eine Tour de force von Pop-Eklektiker Brian Eno über Bluesjazz-Legende Lonnie Johnson bis hin zu den Neutönern György Ligeti und Krzysztof Penderecki, die im Kino mit den Zukunfts- und Horrorvisionen von Stanley Kubrick assoziiert sind.

So etwas zitiert der Filmbesessene Scorsese gleich lustvoll mit. Allein die famose Nebenrolle für Max von Sydow ist eine Vielzahl an Verweisen: an seine Auftritte in Seelenhorrorfilmen von Ingmar Bergman, an seine sinistren Rollen in historischen Großproduktionen. Scorsese war immer der leidenschaftlichste Kinoliebhaber in der Generation der movie brats, jener Gruppe von Regisseuren (darunter Steven Spielberg oder Brian DePalma), die in den Siebzigerjahren die Traumfabrik umkrempelten, indem sie immer auch Filme über andere Filme machten. Shutter Island ist Scorseses Hommage an die Albtraumfabrik, ein Schwelgen in Krimi-Abgründen und Horrorhistorie: von Hitchcock zum italienischen Farbkünstler Mario Bava, von Sam Fullers hysterischem Irrenhausklassiker Shock Corridor zu Schauerstücken von Val Lewton. Diese revolutionierten während der Weltkriegsjahre das Genre: Auch aus Sparsamkeitsgründen mussten sie das Grauen durch Atmosphäre und die Kunst der Andeutung etablieren. Lewtons raffinierte B-Pictures waren auch Röntgenbilder der verdrängten Traumata und Trauer in den Kriegsjahren. Sein Meisterwerk Bedlam von 1946 ist ein Schlüsselfilm für Shutter Island: Ein historisches Drama mit Boris Karloff als ruchlosem Anstaltsleiter, in dem die Ahnung der Lager mitschwingt – was Scorsese in seinen unerhörten Dachau-Bildern aufgreift.

Scorseses bisher erfolgreichster Start

Statt Lewtons leiser, kammermusikalischer Unheimlichkeit bietet Scorsese aber eine barocke Symphonie des Schreckens, eine Serie von Verstörungen. Sie hat ihm in den USA seinen bisher erfolgreichsten Filmstart gebracht, wurde von der Kritik aber merkwürdig reserviert als kommerzielle Stilübung aufgenommen. Dabei ist es der persönlichste, gewagteste Film in Scorseses Quartett mit DiCaprio: Dem monumentalen Zeitbild Gangs of New York und dem Oscarsieger The Departed sind Produktionsprobleme anzusehen, die obsessive Howard-Hughes-Biografie The Aviator machte vor der endgültigen Demontage halt.

Im Wahn der Hauptfigur von Shutter Island wird das nun nachgeholt: Die Tragödie eines Mannes, der nicht aufhören kann, sich selbst zu verletzen – wie einst der sich blutig schneidende Mann in Scorseses frühem Kurzfilm The Big Shave. Bis in den zwiespältigen Schlusssatz zelebriert der Filmemacher grandios eine seiner zentralen Obsessionen: das Kino als Ort des Grauens und der Gnade.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.03.2010)

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