"303": 3000 Kilometer lang über Sex, Liebe und den Kapitalismus reden

Alamode Film
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Sie könnten natürlich einen Billigflieger nehmen - lieber fahren die beiden jungen Protagonisten der bewusst langsamen Roadmovie-Romanze "303" aber mit einem alten Wohnmobil quer durch Europa. Und verlieben sich bei gründlichen Gesprächen.

Hatte der Neandertaler oder der Cro-Magnon-Mensch das bessere Lebenskonzept? Ist Kooperation oder eher Konkurrenz die menschliche Triebkraft? Treibt uns der Kapitalismus in die soziale Isolation? Beeinflusst Sex oder unser Harmoniebedürfnis unsere Partnerwahl? Können wir uns aussuchen, in wen wir uns verlieben? Und sind funktionierende, lange Beziehungen aus biologischer Sicht überhaupt möglich?

Es sind Studentenparty-Diskussionsfragen wie diese, die der Vorarlberger Regisseur Hans Weingartner („Die fetten Jahre sind vorbei“) in seinem neuen Film „303“ von seinen beiden Protagonisten ausführlich verbal erörtern lässt. Dass bei solchen Diskussionen nicht das Ende zählt, also eine eventuelle Einigung etwa oder ein erschöpftes „agree to disagree“, sondern die Lust am Fabulieren, Necken, Argumentieren, Überzeugen, passt auch zum Roadmovie-Genre, das er hier mit einer zarten Generation-Vintage-Romanze verknüpft: Der Weg ist das Ziel. Hier führt er quer durch Westeuropa, von Berlin auf die iberische Halbinsel. Lang genug, um das Wesen des Menschen und der Liebe gründlichst durchzubesprechen.

Weg von der Autobahn

So schwafeln sie also 145 Kinominuten lang dahin: Die 24-jährige, an das Gute im Menschen glaubende Jule (Mala Emde), die mit ihrem alten Mercedeswohnmobil (die Modellnummer gibt dem Film den Namen) und Ringen unter den Augen nach Portugal will, um ihrem Freund dort zu eröffnen, dass sie schwanger ist. Und der gleichaltrige Jan (Anton Spieker), der sich mit dem evolutionär bedingten Egoismus des Menschen abgefunden hat und nun mit einem Rucksack und einer Glasflasche voll selbstgemachtem Holundersaft nach Spanien trampt, um zum ersten Mal seinen leiblichen Vater zu sehen. An einer Raststation gabelt sie ihn auf, und nach anfänglichen Reibereien (er hat aber auch ein Talent dafür, ungefragt seine Meinung zu sensiblen Themen zu statuieren!) haben sie einander so lieb gewonnen, dass aus einer gemeinsamen Etappe mehrere werden und die eigentlichen Fahrtziele aus dem Fokus rücken: Statt auf der Autobahn geht es idyllische Landstraßen entlang, bald tuckern sie überhaupt über Schotterwege, schauen sich unterwegs Kloster an und rennen nebeneinander Strände entlang, wie es Verliebte in einem Liebesfilm eben machen.

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Und dazwischen wird der Diskussionsfaden natürlich immer wieder aufgenommen und weitergesponnen. Inspiriert hat Weingartner Richard Linklaters in Wien spielende Romanze „Before Sunrise“ (bei deren Dreh er 1995 Produktionsassistent war) – auch da verlieben sich zwei Reisende, indem sie einen Film lang über Gott und die Welt plaudern. Ganz so kitschfrei plätschernd, ungezwungen und leichtfüßig kommt „303“ aber nicht daher. Zum einen, weil Jule und Jan schon ohne die philosophisch-populärwissenschaftlichen Themenungetüme so viel Gepäck mitführen: Zwei angeknackste Seelen, die beide ein Problem mit sich selbst haben, sind konfrontiert mit existenziellen Lebensfragen. Zum anderen, weil ihre zunehmend intimen Gespräche analog zur sich anbahnenden Liebelei manchmal zu konstruiert wirken: „Eine einzige zärtliche Berührung killt übrigens tausende von Stresshormonen“, flüstert Jule Jan vor dem Einschlafen von ihrer Schlafkoje im Campingbus aus zu, die Gelegenheit für den praktischen Beweis folgt bald. Was die beiden mit der Information anfangen werden, dass sich der Mensch beim Küssen eigentlich einen genetisch kompatiblen Partner erschnuppert, kann man sich vorstellen.

Generation grenzenlos

Macht aber nichts: Das ist es doch, was Verliebtheit so aufregend macht – die Ahnung, dass aus theoretisch Angedeutetem tatsächlich Erlebtes werden kann. Die vorsichtig getapsten Annäherungsschritte dahin und die vielen Uneindeutigkeiten zelebriert Weingartner in seinem bewusst langsamen Film (denn natürlich hätten Jule und Jan auch einfach einen Billigflieger nehmen können) mit viel Empathie, während er draußen vor dem Autofenster lichtverwöhnte Landschaften vorbeiziehen lässt und selbst in den aufgesetzteren Momenten (Turteln in der Brandung! Nachdenkliches Starren am Lagerfeuer!) im Duktus zart bleibt.

Er zeigt, wie zwei Leute Vertrauen und Zuneigung aufbauen, obwohl sie fast nie einer Meinung sind, wie sie einander mit kleinen Gesten eine angenehmere Welt bauen – und wie sie sich fetzen können, ohne diese Welt zu zerstören. Und ja, irgendwie ist „303“ auch ein Film über eine Generation, die die Idee eines grenzenlosen Europas verinnerlicht hat: Nicht zufällig scheint Jan alle brauchbaren Sprachen zwischen Deutschland und Portugal zu sprechen, und die Straßenschilder, die ein neues Land ankündigen, passiert das Paar mit einem beiläufigen High-Five. Man lässt sich bei seinen Diskussionen ja nicht von Landesgrenzen unterbrechen.

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