„Dogman“: Ein Hundefriseur in einem brutalen System

Marcello Fonte spielt in „Dogman“ eindringlich und nuanciert einen gutmütigen Duckmäuser, der in die Kriminalität gedrängt wird. „Er ist ein toller Augenschauspieler“, sagt sein Regisseur Matteo Garrone.
Marcello Fonte spielt in „Dogman“ eindringlich und nuanciert einen gutmütigen Duckmäuser, der in die Kriminalität gedrängt wird. „Er ist ein toller Augenschauspieler“, sagt sein Regisseur Matteo Garrone.(c) Alamode Film
  • Drucken

In „Dogman“ von „Gomorrha“-Regisseur Matteo Garrone dient ein grauenerregender Fall aus der Kriminalgeschichte Italiens als Basis für eine meisterliche humanistische Parabel, die in jeder Problemzone Europas spielen könnte.

Der Fall Pietro De Negri zählt zu den aufsehenerregendsten Verbrechen der italienischen Nachkriegsgeschichte: 1988 sperrte der gleichnamige Hundefriseur aus Magliana einen örtlichen Schläger unter falschem Vorwand in einen Käfig, um ihn anschließend zu Tode zu foltern. Die Tat ging als Gipfel der Unmenschlichkeit durch die Medien. Nun, 30 Jahre später, hat der renommierte Regisseur Matteo Garrone auf Basis der Geschichte einen Film gedreht, der in Cannes Premiere feierte und ab Freitag auch bei uns zu sehen ist. Das Erstaunliche daran: „Dogman“ ist eine Großtat des filmischen Humanismus.

Denn an der Auswalzung von „True Crime“-Kolportage hat Garrone keinerlei Interesse. In seinen Händen gerät der Stoff zu einer Parabel über Gewalt und ihre Wurzeln, durchexerziert am Beispiel eines Gegensatzpaares. Der gutmütige, unscheinbare Wicht Marcello (Marcello Fonte) führt eine bescheidene, aber erfüllende Existenz in einem heruntergekommenen Vorort Neapels. Alle, die ihn kennen, haben ihn gern. Sein Hundesalon ist die Asphaltblume der tristen Nachbarschaft, seine kleine Tochter blickt zu ihm auf. Eigentlich alles in Ordnung – wäre da nicht der tumbe Wüterich Simoncino (Edoardo Pesce), dem Marcello hin und wieder Kokain verkauft. Anfangs fragt man sich, warum er sich überhaupt mit ihm abgibt. „Die Beziehung zwischen den beiden ist widersprüchlich“, erläutert Garrone im „Presse“-Gespräch. „Marcello hat Angst vor Simoncino, ist aber auch von ihm fasziniert. Er glaubt, dass er mit wirklich jedem befreundet sein kann – auch mit einem richtig üblen Kerl.“

Das erweist sich natürlich als Irrglaube. Simoncino nutzt Marcello immer rücksichtsloser aus, zwingt ihn sukzessive in die Kriminalität – mehr kraft seiner einschüchternden Ausstrahlung als mit tatsächlichen Drohungen. Einmal muss der kleine Leisetreter als Fahrer für einen nächtlichen Einbruch herhalten. Auf dem Heimweg stellt sich heraus, dass die Räuber ein kläffendes Wachhündchen kurzerhand ins Gefrierfach gesteckt haben. Also kehrt Marcello allein um, bricht selbst in die Wohnung ein, reanimiert das Tier vorsichtig im Spülbecken.

Wie die Großen des italienischen Nachkriegskinos – Vittorio de Sica, Roberto Rossellini, Mario Monicelli – verbindet Garrone in solchen Szenen das Tragische mit dem Komischen, schmerzlichen Realismus mit absurden Zuspitzungen. Besonders zu Beginn, als sich Marcello noch öfters mit seinen geliebten Vierbeinern balgt, scheint ein Hang zum Altmodisch-Klamaukigen durch. „Ich schreibe immer wie für einen Stummfilm“, meint der Regisseur. „Diesmal waren meine Modelle vor allem Buster Keaton und Charlie Chaplin. Der Humor am Anfang steigert die Kraft des Dramas im zweiten Teil.“

„Der Bösewicht ist enorm wichtig“

Wirklich dramatisch wird es erst, als die Beziehung zwischen Simoncino und Marcello eskaliert. Doch Garrone verzichtet bewusst auf exzessive Gewaltdarstellung. „Mich interessieren die Ursachen des Konflikts, die psychische Gewalt, viel mehr als die Details des Verbrechens selbst“, sagt er. „Ich wollte keinen Horrorfilm drehen. Die Story vom guten Menschen, der aus Rachsucht zum Monster wird, habe ich schon 100 Mal gesehen. Filmfiguren, die versuchen, innerhalb eines brutalen Systems zu überleben, ohne selbst zu Tätern zu werden, seltener.“

Marcello gibt diesbezüglich sein Bestes, wirkt wie der Archetypus eines wohlmeinenden Angepassten, dem man sein Duckmäusertum allein schon wegen des treuherzigen Hundeblicks schwer übel nehmen kann. Hauptdarsteller Fonte wurde in Cannes für seine nuancierte Performance verdientermaßen ausgezeichnet, Garrone hat ihn mit Bedacht besetzt: „Marcello eignet das Gesicht eines alten Italiens, das gerade im Begriff ist, auszusterben. Er kommt aus einer armen Bauernfamilie aus dem Süden, seine Augen tragen Geschichte in sich.“

Edoardo Pesces Verwandlung in eine grobschlächtige Promenadenmischung aus Bulldozer und Bulldogge, die ungeachtet aller Durchschlagskraft noch immer unter Mamas Schlapfen steht, beeindruckt ebenfalls. Die raue Stimmführung habe Pesce sich erst antrainieren müssen: „Der Bösewicht ist in so einem Film enorm wichtig, alles hängt von seiner Glaubwürdigkeit ab.“

Auf den ersten Blick könnte man meinen, Garrone habe mit „Dogman“ die harsche Italien-Kritik von „Gomorrha“, seiner gnadenlosen Mafia-Abrechnung nach dem Bestseller von Roberto Saviano, aufgegeben und sich harmlosen Allegorien zugewandt. Doch nichts dergleichen: Sein neuer Film spielt in derselben Gegend, beschönigt die Zustände nicht und hätte sich nahtlos in die Episodenstruktur seines Durchbruchswerks eingefügt. Auch hier geht es darum, wie die Vernachlässigung „unattraktiver“ Regionen Verbrechen gebiert – die Handlung könnte von jeder anderen Problemzone Europas erzählen. „Die Richtung, in die sich die Welt derzeit entwickelt, stimmt mich nicht gerade optimistisch. Aber jeder, der will, kann etwas dazu beitragen, bestimmten Tendenzen Paroli zu bieten“, meint der Filmemacher. Große Erwartungen, dass sein Schaffen etwas verändern könnte, hat er nicht. Nur die bescheidene Hoffnung, dass manche Menschen mehr darin finden als bloße Ablenkung. „Fellini pflegte zu sagen, dass es tote und lebendige Filme gibt. Ich bemühe mich, lebendige zu drehen.“

Zur Person

Matteo Garrone wurde 1968 in Rom als Sohn eines Theaterkritikers und einer Fotografin geboren. In seinen ersten Filmen beschäftigte er sich mit Einwanderern und Prostituierten in Rom. Für seine Mafia-Abrechnung „Gomorrha“ (2008) wurde er in Cannes mit dem Jury-Preis prämiert und für einen Golden Globe nominiert. Sein jüngster Film „Dogman“ startet am Freitag im Kino.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.