Stan Lee: Der Mann, der Helden super machte

Stan Lee (1922–2018) hat ein Werk geschaffen, das auch nach seinem Tod weiterwachsen wird.
Stan Lee (1922–2018) hat ein Werk geschaffen, das auch nach seinem Tod weiterwachsen wird.(c) Newsday via Getty Images
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Stan Lee, der Kreativkopf hinter Spider-Man und vielen anderen Marvel-Heroen, ist 95-jährig gestorben. Er verlieh Comic-Übermenschen Bodenhaftung – und begründete eine Popmythologie, an der heute keiner vorbeikommt.

Kaum hat Spider-Man den vermeintlichen Autodieb zur Strecke gebracht, ruft die Alarmanlage mürrische Anrainer auf den Plan. Ein weißhaariger Mann lehnt sich aus dem Fenster und droht dem Superhelden mit dem Zeigefinger: „Zwing mich nicht, herunterzukommen, du kleiner Penner!“ Was für die meisten Zuschauer von „Spider-Man: Homecoming“ nur ein Ulkmoment unter vielen ist, bietet Marvel-Fans einen ironischen Insider-Schmäh. Denn der raunzende Kleindarsteller ist niemand Geringerer als Stan Lee – der Mann, ohne den es die Hauptfigur des Films und etliche andere Marvel-Stars gar nicht geben würde.

In Zukunft werden Comic-Enthusiasten auf der ganzen Welt bei dieser Szene – und bei vielen vergleichbaren Lee-Auftritten in anderen Marvel-Blockbustern – die eine oder andere Träne zerdrücken: Am Montag ist der Heldenschöpfer in Los Angeles gestorben. Er wurde 95 Jahre alt.
Der Sohn jüdisch-rumänischer Einwanderer wuchs als Stanley Martin Lieber in New York auf. Dank Familienkontakten fand er als Teenager Arbeit beim Groschenheftverlag Timely Publications, aus dem sich das Marvel-Imperium entwickeln sollte. Sein Schaffensdrang (der junge Stan wollte schauspielern und Romane schreiben) ließ ihn bald zum Autor und Chefredakteur eines Vorreiters der jungen Comic-Industrie aufsteigen – und führte ihn in den 1960ern zusammen mit begnadeten Zeichnern wie Jack Kirby und Steve Ditko zu ungeahntem Erfolg.

Über 300 Heroen und Bösewichte

Lees Genie lag in unbändigem Einfallsreichtum und einem Sinn für logistische Effizienz: Die „Marvel-Methode“ der Stoffentwicklung zog rudimentäre Manuskripte ausführlichen Handlungsbeschreibungen vor. Seine wahre Superkraft war jedoch ein Gespür für Bodenständigkeit. Er verpasste einem Genre, das bislang vor allem entrückte Überflieger wie Batman und Superman hervorgebracht hatte, eine überfällige Dosis Humanität. Seine Helden hatten zwar unglaubliche Fähigkeiten, doch im Inneren trieben sie dieselben Sorgen um wie ihre Fans.

Spider-Man spann Netze, klopfte Sprüche und krabbelte Fassaden hoch. Hinter seinem roten Kostüm verbarg sich allerdings ein nerdiger Jugendlicher, der sich mit Alltagsproblemen und Herzensangelegenheiten herumschlagen musste. Die Fantastischen Vier, vom Konzept her ein Abklatsch der „Justice League“ aus den Stallungen des ewigen Konkurrenzverlags DC, erkundeten todesmutig absonderliche Anderswelten – doch wenn sie in Streit verfielen, fühlte sich jeder Leser an seine eigene Familie erinnert.

Lees Heroen und Bösewichte (über 300, die meisten davon männlich, zauberten er und seinen Verbündeten aus dem Hut) bedienten selten triviale Allmachtsfantasien. Im Gegenteil: Ihre Kräfte waren oft Ausdruck von Unsicherheit und Außenseitertum. Besonders augenfällig beim Mutantenteam der X-Men: Dessen Mitglieder werden für ihre angeborenen Begabungen geächtet. Erst im Zusammenschluss finden sie Anerkennung: Der psychologische Zugang stieß auf großen Anklang, wurde viel kopiert und beförderte einen Boom im Comic-Business.

In einem Interview meinte Lee, er selbst sei „geschäftlich gesehen dumm“ gewesen, manche seiner einstigen Mitstreiter würden da wohl widersprechen: Jack Kirby etwa sah sich von Lees Geltungsdrang um Erfinderruhm und Tantiemen betrogen. Ein Talent für Selbstvermarktung konnte man dem umtriebigen Ideengeber, im Unterschied zu vielen seiner Kollegen, nicht absprechen. Von Anfang an suchte Lee in Kolumnen Publikumsnähe, beantwortete Leserbriefe und signierte Schriften mit einem „Excelsior!“, das sich zu einem Erkennungszeichen entwickelte; aktuell macht es als Hashtag-Tribut auf Twitter die Runde. Zugleich setzte er die Nennung von Autoren und Zeichnern in einem Spezial-Panel auf der ersten Bildheftseite durch.

Auch lang nach seiner wichtigsten Kreativperiode stand Lee als Comic-Botschafter und Marvel-Maskottchen im Rampenlicht – nie sah man ihn ohne markante Sonnenbrille. „Ich habe sie schon immer getragen“, meinte er einmal. „Sie gab mir das Gefühl, älter zu sein – in gewisser Hinsicht ist sie meine Maske.“ Medial und auf zahlreichen Fan-Messen charmierte Lee mit sympathischen Lebensweisheiten und trockenem Humor. In einem Video aus den 1990er-Jahren nimmt er das übertriebene Muskelmann-Heldendesign zweier junger Zeichner gepflegt aufs Korn: „Wie lang braucht dieses Ungetüm eigentlich, um sich anzuziehen?“

Entertainment-Universum

Obwohl spätere Unterfangen Lees, darunter auch Experimente mit Online-Comics, nie an seine ursprünglichen Erfolge anschließen konnten, wirkte er bis zuletzt zufrieden. Kein Wunder: Mittlerweile fußt eine ganze Popmythologie auf den Erzeugnissen seiner Vorstellungswelt. Marvel hat sich zum globalen Multimediakonzern unter Disney-Schirmherrschaft gemausert, und Lees Kreationen treiben sich längst nicht nur auf Comicseiten und in Kinderzimmern herum, sondern führen ein formidables Entertainment-Universum an.

Iron Man, Hulk, Thor und Co. prügeln sich, von Superstars verkörpert, in „Avengers“-Blockbustern auf Leinwänden rund um die Welt. Computerspiele und Netflix-Serien wie „Daredevil“ und „Agents of S.H.I.E.L.D.“ bringen ihre Abenteuer ins Wohnzimmer von Millionen. Sogar der afrikanische Prinz Black Panther, dessen Kinodebüt als Inklusionsmarkstein Hollywoods gefeiert wurde, entsprang einst Lees Verstand. Aktiv und umgänglich war er bis zuletzt. Nun ist der Bauherr des modernen Superheldenpantheons selbst unter die Legenden gegangen. Sein Werk wächst weiter, ganz von selbst.

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Der Heldenschöpfer

„Die Spinne“, Stan Lees berühmteste – und lukrativste – Erfindung, hatte 1962 ihren ersten Auftritt. Ein jugendlicher Verlierertyp (zunächst noch dazu ein brillentragender Bücherwurm) mit klassischen Teenagerproblemen als Protagonist war neu und verstieß gegen einige ungeschriebene Comicgesetze. Um den schüchternen Peter Parker, der nach einem Spinnenbiss Superkräfte entwickelt, drehten sich allein seit 2000 sechs Blockbuster.

Nach außen hin ist das stattliche Herrenhaus ein Internat für besonders Begabte, in Wirklichkeit trainieren in der X-Villa die X-Men: Mutanten, die spezielle Fähigkeiten besitzen – und von anderen Menschen daher oft ausgegrenzt werden. Die Truppe um den selbstheilenden Klauenmann Wolverine, die Wettermacherin Storm, Cyclops mit den Laserstrahlaugen und viele mehr bevölkerte die beliebteste Comicserie der 1980er und 1990er.

Stan Lees allererste Erfindung: Nach dem Erfolg der „Justice League“ des Konkurrenzverlags DC wollte Marvel 1961 auch ein Heldenteam. Die Fantastic Four – der elastische Mr. Fantastic, Invisible Girl, die selbstentzündliche „Fackel“ und das monströse „Ding“ – bekamen durch kosmische Strahlung Kräfte (und Charakterzüge), die den vier Elementen entsprechen. Sie lieben einander wie eine Familie – und streiten sich auch so.

Jekyll und Hyde im Superheldenuniversum: „The Hulk“ ist das Alter Ego des hyperintelligenten, als Kind misshandelten Nuklearphysikers Bruce Banner. Wenn dessen unterdrückte Emotionen aufwallen, verwandelt er sich in einen riesigen Muskelprotz. Meist ist dieser grün (das ursprüngliche Grau kam im Druck nicht gut heraus), doch er nimmt auch andere Farben und Persönlichkeiten an, von primitiv-wütend bis gerissen-manipulativ.

Der erste große schwarze Superheld, Black Panther, ist der König des isolierten, technologisch hoch entwickelten Staats Wakanda. Seinen ersten Auftritt hatte er 1966, die Namensgleichheit mit der im selben Jahr gegründeten Bürgerrechtsorganisation ist laut Lee „ein seltsamer Zufall“. Der Held ist Mitglied der Avengers („Rächer“), diesem Allstar-Heldenteam, dem auch andere Lee-Kreationen wie Iron Man angehören.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2018)

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