Assayas: "Carlos konnte seinen Mythos aufbauen"

(c) Jean-Claude Moireau/Polyfilm
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Regisseur Olivier Assayas im Interview über sein Spielfilmepos "Carlos": Vom immer gleichen Mechanismus des Terrors, dem Beharren auf Fakten und den Vorteilen der Stasi-Überwachung.

„Die Presse“: In den letzten Jahren sind Terrorismusthemen ein Renner im Kino: Es gab Großproduktionen wie „Che“ oder „Der Baader Meinhof Komplex“. Half Ihnen das Interesse, um das Großprojekt „Carlos“ auf die Beine zu stellen?

Olivier Assayas: Ja und nein. Einerseits wurde so die Möglichkeit geschaffen, ein Projekt dieser Länge zu finanzieren: „Carlos“ existiert ja in einer fünfeinhalbstündigen Langfassung, die in Frankreich als Fernseh-Dreiteiler ausgestrahlt wurde, und in einer knapp dreistündigen Kinoversion. (Beide kommen in Österreichs Kinos, Anm.) Andererseits gab es kein Geld vom deutschen TV: Die wollten nach dem „Baader Meinhof Komplex“ kein zweites Terrorismusprojekt. Und ich hatte für das Kino einen Zweiteiler geplant: Weil dieses Format aber bei „Che“ und anderen jüngeren Filmen an den Kassen nicht gut genug ging, gibt es jetzt nur einen Kinofilm.

Faszinierend an „Carlos“ ist nicht zuletzt, dass die politischen Entwicklungen, um die es darin geht, auch heute noch weiterwirken.

Im Kern ist es ein Film über den Mechanismus des Terrors: Dessen Prinzip ist heute dasselbe wie in den Siebzigerjahren, nur die Fronten haben sich verschoben. Damals war es der Kalte Krieg, heute sind es Kriege um Drogen oder Öl usw. Aber es geht im Terrorismus letztlich immer um dasselbe: Jemand schickt jemand anderem eine Botschaft.

Das Thema ist natürlich ideologisch stark befrachtet. Sie haben sich offensichtlich bemüht, nicht auf eine der Seiten gezogen zu werden.

Das war mir ein Hauptanliegen. Darum war ich auch wie besessen von den Fakten: Wir haben, soweit das möglich war, immer nur die Abfolge belegter Tatsachen präsentiert, und dabei versucht, politische oder ideologische Interpretationen zu vermeiden.

Sie liefern aber eine Interpretation der Figur.

Natürlich! Wie ich Carlos zeige: Da kommt automatisch Subjektivität ins Spiel. Doch das ist eine menschliche Perspektive: Mich interessiert er als Person – und die Art, wie er sowohl in die Geschichte verwickelt und ihr Opfer ist, wie seine Verwandlung durch den Zeitenwandel beeinflusst wird.

Genau daran ist ja der „Der Baader Meinhof Komplex“ gescheitert, obwohl dort der gleiche, strikt faktenbasierte Zugang versucht wurde.

Ja, dieser Film hat obendrein das Problem, dass er sich nie auf eine Figur konzentriert: Ihm fehlt der Zusammenhalt. Aber vor allem versteht man beim „Baader Meinhof Komplex“ die geopolitischen Umstände nicht – doch der Terrorismus der Ära ist untrennbar mit dem Kalten Krieg verbunden. Beschäftigt man sich nicht mit diesem Aspekt, kann man nur scheitern. Und ich bin ja kein Deutscher, das ist also nicht meine politische Geschichte, aber man muss sich doch ausführlich der Stammheim-Affäre stellen, wenn man sich mit Baader-Meinhof beschäftigt, und dazu einen klaren Standpunkt beziehen!

Ihr Zugang zu Carlos ist aber zwiespältig: Er ist ein glamouröser Popstar – und ein Revolutionär, der zum Söldner wird. Die Faszination der Figur wird greifbar, aber das Porträt ist immer kritisch.

Das ist einer der großen Vorteile des Langformats: Man kann sich detailliert einer Figur widmen, deren Charakter sich durch die Zeiten radikal ändert. Ich hatte genug Zeit, um Carlos in seinen verschiedenen Inkarnationen zu beleuchten. Natürlich hat er seine Rockstar-Momente, etwa als er sich für die Wiener Opec-Geiselnahme im Che-Stil einkleidet, samt dessen typischer Mütze. Sonst wäre er nie zur Medienfigur geworden und hätte nicht diesen Mythos aufbauen können. Aber mich hat vor allem gereizt, nachzuzeichnen, wie er sich im Lauf der Jahre ständig ändert, eine andere Person wird. Anfangs hat er bestimmte Überzeugungen und Ideen, aber dann wird er selbst durch sein mediales Bild und seinen Narzissmus mitgerissen. Er wird zum Pragmatiker – und dann ist es nicht mehr weit zum Zyniker.

Viele Szenen sind auch sehr lustig, weil sie so absurd sind: Der Terrorangriff am Flughafen Orly mit dem Raketenwerfer ist unglaublich.

Ja, ich traute meinen Augen nicht, als ich das recherchierte: Das war nicht so, wie es damals in den Nachrichten gezeigt wurde oder wie es in Carlos-Biografien beschrieben wird. Das merkt man erst, wenn man in die Details geht und rekonstruiert, was wir ganz präzise gemacht haben. Sogar das gleiche Auto, von dem aus an genau der gleichen Stelle die Granate abgefeuert wird. Und wenn man sich das ansieht: Es ist die reine Komödie! Sowas kann man nicht erfinden.

Oder die Szene, als zwei ungarische Polizisten Carlos des Landes verweisen. Ich war verblüfft zu hören, dass die auf Originalprotokollen beruht!

Ja, da wird genau gesagt, was in der Abschrift steht, nur das Spiel mit Sprachen haben wir bei der Arbeit mit den ungarischen Schauspielern hinzugefügt. Es geht nicht bloß darum, den Film unterhaltsam zu machen, sondern wirklich die Absurdität der Szene herauszuarbeiten, wenn der längst für alle Seiten arbeitende Carlos an sie appelliert: „Aber ihr seid doch Kommunisten!“ Von einem dieser ungarischen Gespräche gab es sogar einen Überwachungskamera-Film. In der Hinsicht war auch die Stasi sehr hilfreich, die hatte alles aufgenommen.

Ein entscheidender Aspekt des Films ist die Vielsprachigkeit: In der Originalversion werden acht Sprachen gesprochen, das vermittelt auch dieses Gefühl, rund um die Welt zu rasen. Ein großer Gewinn ist dabei Ihr Hauptdarsteller, Édgar Ramírez, der das so selbstverständlich beherrscht.

Dabei war das reines Glück! Ich konnte schließlich vorher nicht wissen, ob es so einen Schauspieler gibt. Wäre das nicht der Fall gewesen, dann hätte ich das Projekt wieder abgebrochen. Erst in dem Moment, als ich in Édgar meinen Carlos entdeckte, wusste ich: Jetzt ziehe ich den Film durch!

Ihr nächster Film wird wohl wieder kleiner...

Ja, und es gibt schließlich auch nicht viele Geschichten, die so eine große Anlage rechtfertigen. Als ich das Projekt anging, ahnte ich nicht, dass es eine Produktion in diesem Maßstab wird. Aber wenn man die Geschichte von Carlos erzählen will, hat man keine andere Wahl, um das Sujet zu begreifen. Nur die Opec-Entführung zu erzählen, wäre zu wenig: Es braucht das Ganze!

„Carlos“ läuft ab Freitag, 5. November, in den österreichischen Kinos, in Originalfassung mit Untertiteln in Filmcasino (Wien), Moviemento (Linz) und Rechbauer (Graz). Die integrale fünfeinhalbstündige Langversion läuft (in OmU) sonntags im Wiener Village (15h) sowie im Moviemento (10.30h).

Zur Person

Olivier Assayas (*1955, Paris) ist der wichtigste französische Regisseur seiner Generation. Er war Filmkritiker der „Cahiers du cinéma“ und verfasste Drehbücher. 1986 erregte er mit dem Spielfilmdebüt „Désordre“ („Lebenswut“) Aufsehen. Sein Werk ist sehr vielseitig: Er drehte u.a. die Kino-Fantasie „Irma Vep“ (1995), den Cyber-Thriller „Demonlover“ (2002) und das Familiendrama „L'heure d'éte“ (2008). [Polyfilm]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2010)

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