"127 Hours": James Franco in der Felsspalte

(c) AP (Chuck Zlotnick)
  • Drucken

Danny Boyles "127 Hours" ist für sechs Oscars nominiert. Sein exzessiver Überlebensfilm erzählt die wahre Geschichte des gefangenen Extremkletterers Ralston, der seinen Arm amputierte, wie einen Pop-Videoclip.

Das Bild ist zerrissen in mehrere Teile. Szenen urbaner Überfüllung quellen über die Leinwand: Menschen schieben sich zu Tausenden über Gehsteige oder quetschen sich in U-Bahnen. Die Bilder wechseln innerhalb weniger Sekunden, passend zum Beat der Musik, der das bunte Potpourri stark nach Videoclip aussehen lässt. In den Filmen des Pop-Schlawiners Boyle regieren treibende, starke Rhythmen: Der Brite ist ein Spezialist darin, seine oft von der Restgesellschaft isolierten Figuren durch Bilder und Musik zu charakterisieren. „Take it if it makes you numb“, hört man die US-Popper „Free Blood“ gleich am Anfang von 127 Hours singen. „Nimm es, wenn es dich betäubt“, und später dann „I'm high“ und, eh klar, „Never gonna get enough“.

Niemals genug bekommen, die Extremerfahrung suchen: Gemeinplätze, die Medien und andere Kommentatoren dem mittlerweile 35-jährigen Kletterer Aron Ralston schnell zugeschanzt haben. 2003 war er im Blue John Canyon in Utah unterwegs, wie so oft allein: Sicherheitsvorkehrungen und andere überlebenstechnische Überlegungen spielen an diesem Tag keine Rolle. Nur er und der Himmel, ein beinahe mythisches Konstrukt, wie geschaffen für das Breitwandkino. Aber die grenzenlose Freiheit verwandelt sich in ein Martyrium: In einer Felsspalte löst sich plötzlich ein Gesteinsbrocken und quetscht Ralstons Arm ein. Die titelgebenden 127 Stunden, etwas mehr als fünf Tage, harrt er dort zwischen Himmel und Hölle aus. Ein Leidensweg, der zur transzendenten, außerkörperlichen Erfahrung wird für den Extremsportler: eine Geschichte, wie vom Leben geschrieben für Danny Boyle. Der Regisseur liebt die Ausschreitung und den Exzess, in seinen Figuren genauso wie in deren Inszenierung.

Nach seinem Welterfolg mit Slumdog Millionaire, dem elendesten Wohlfühlfilm der letzten Dekade, hatte Boyle freie Hand bei der Wahl seines nächsten Projekts: Er entschied sich für Ralstons Geschichte, der Stoff schien nach der aufwendigen Produktion des Vorgängerfilms eine willkommene Abwechslung und Herausforderung.

Die Bilder werden unscharf und kippen

In Boyles Filmen regiert Rast- und Orientierungslosigkeit: Hier erzählt er die Geschichte eines Manns, der in einer Felsspalte eingeklemmt wird. Reale Orte oder Verwurzelungen spielen bei Boyle eine untergeordnete Rolle: Seine Figuren folgen bedingungslos ihren Visionen, egal ob drogeninduziert wie in seinem Durchbruchsfilm Trainspotting oder vom Überleben in einer Zombie-zerfressenen Welt wie in 28 Days Later. Sicherheiten bietet Boyle seinen Figuren nicht: Geschichte und Inszenierung sind doppelbödig und entgleisen regelmäßig. Bilder werden unscharf und kippen, die Tonebene läuft Amok, blitzende Lichter zerreißen die Leinwand.

Die Geschichte von Aron Ralston hätte Boyle erfinden müssen, wäre ihm das Leben nicht zuvorgekommen. Der mitunter faszinierendste Hollywood-Schauspieler der Gegenwart James Franco verkörpert den Kletter-Freak Ralston physisch und psychisch mitreißend. Ein Lausbub mit breitem Grinsen im Gesicht, der einfach mal wieder ausbüxen will: Mit minimaler Ausrüstung bricht er auf, radelt wie ein Wahnsinniger über den glatten Stein des Canyons, stürzt, steht auf und geht weiter. Irgendwann trifft er zwei junge Kletterinnen, hübsche Mädchen (gespielt von Amber Tamblyn und Kate Mara), denen er, stolz wie ein Volksschüler, einen unterirdischen See zeigt, in dem die drei dann planschen und lachen und glücklich sind. Ralston filmt die Szenerie mit seiner kleinen Kamera, die eine wesentliche dramaturgische Rolle spielen wird, später, wenn alles schiefgelaufen ist. Eines der Mädchen spricht direkt in die Linse, sie flirtet. Süßer Vogel Jugend. Nach dem Unfall sieht Ralston immer wieder denselben Vogel zur selben Tageszeit über der Felsspalte kreisen, in der er feststeckt. So schnell wird das Freiheitsgefühl zum Gefängnis.

Boyle liebt extreme Kontraste: Jugend und Tod, ultimative Beweglichkeit und totaler Stillstand. Selbigen kennt er als Regisseur allerdings nicht. Das potenzielle Kammerspiel bricht der zappelige Boyle immer wieder auf: Kameraflüge über die Landschaft, diverse Rückblenden, später auch halluzinatorische Schübe heben die Intensität auf, verunmöglichen jene Spannung, die 127 Hours benötigt hätte. Die Tortur wird hier zum Pop-Videoclip: Selbst der Stillstand ist rasant geschnitten, immer wieder schiebt sich der pumpende Soundtrack des legendären indischen Komponisten A.R. Rahman in den Vordergrund.

Ein Rauschzustand, der Kopfweh erzeugt

Die bereits im Vorfeld heiß diskutierte Selbstbefreiung Ralstons, bei der er sich mit einem Taschenmesser den Arm abtrennt, reißt einen vor allem aufgrund des Detailreichtums mit, nicht aber, weil man der Figur nahestehen würde. Ralston bleibt nämlich bis zum Schluss des Films ein Fantasiegebilde, mit dem man selbst dann nicht mitfühlt, wenn man ihm eine Stunde beim Monologisieren, Heulen, Verzweifeln und Eigenurin-Trinken in einer Felsspalte zusieht. Das passiert eben, wenn einer der unpersönlichsten Regisseure der Gegenwart so eine persönliche, intime Geschichte inszeniert. Den Rauschzustand beschwört Boyle den ganzen Film hindurch: Wenn man von seiner Überwältigungsmaschine wieder ausgespuckt wird, verspürt man allerdings kein Hochgefühl. Sondern Kopfweh.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.02.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.