Sabine Kuegler: "Der Dschungel ist zivilisierter"

Sabine Kuegler Dschungel zivilisierter
Sabine Kuegler Dschungel zivilisierter(c) EPA (JENS KALAENE)
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Sabine Kuegler wuchs als Tochter eines Forscherpaares im Urwald von Papua-Neuguinea auf und schrieb über ihr Leben als Dschungelkind. Der Film dazu läuft nun im Kino an. Ein "Presse"-Interview.

Statt eines Kuscheltieres besaß sie eine haarige Spinne, lernte Bogenschießen statt Radfahren und bekam zur Verlobung von ihrem Freund einen Krokodilzahn geschenkt. Das Schicksal von Sabine Kuegler hat Millionen Leser fasziniert. Als Tochter eines Forscherpaares verbrachte sie ihre Kindheit im Urwald von Papua-Neuguinea. Als ihre Biografie „Dschungelkind“ 2005 erschien, wurde sie zum Bestseller. Seit einigen Tagen läuft die Verfilmung des Buchs im Kino.

Wie war für Sie die Erfahrung, Ihr Leben auf der Kinoleinwand anzusehen?

Das Bewegendste, was ich je erlebt habe. Denn in den letzten zwei Jahren fanden die ganzen Vorbereitungen dazu statt, da wurde mir vor lauter Arbeit gar nicht bewusst, dass da wirklich mein Leben verfilmt worden ist.


Wie sehr entspricht der Film dem, was Sie tatsächlich erlebt haben?

Natürlich ist „Dschungelkind“ keine Dokumentation. Man kann nicht in 120 Minuten eine ganze Kindheit in allen Details verfilmen, aber er kommt dem Ganzen sehr nahe.


Haben Sie Ihren Vater in seiner Entscheidung, mit drei Kindern in den Dschungel von West-Papua zu gehen, verstanden?

Meine Mutter war eigentlich diejenige, die in den Dschungel wollte. Mein Vater ist nur nachgezogen. Wenn ich die Entscheidung zu treffen hätte, würde ich dasselbe machen und meine Kinder auch im Urwald großziehen.

Aber ist es im Dschungel nicht gefährlich?

Die Chance, vom Auto überfahren zu werden, ist größer als die, von einer Schlange gebissen zu werden. Und eine Schlange ist besser einzuschätzen als ein Betrunkener hinterm Steuer. In dem Sinne finde ich diese Welt hier gefährlicher als den Urwald.


Beim Stamm der Fayu, in dem Sie aufwuchsen, beeinflusst der Aberglaube stark das Leben. Wie religiös oder spirituell sind Sie?

Religiös bin ich gar nicht. Meine Eltern sind stark christlich geprägt – klar, als Missionare, und das akzeptiere ich. Ich wurde als Kind eher spirituell geprägt, da die Stämme an Geister geglaubt haben – noch spiritueller kann man also gar nicht werden. Das ist eher das, womit ich mich identifizieren kann.


Wie konnten Sie Ihren Weg zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Welten finden und alles für sich einordnen?

Was mir in Deutschland gleich auffiel, ist, dass diese Welt hier auf Äußerlichkeiten großen Wert legt – beim Leben im Urwald hat das innere Leben Vorrang. Hier ist alles, was man nicht sehen kann, nicht existent – im Urwald ist es umgekehrt. Bei einigen Stämmen ist es so, dass man sich erst bei den Geistern entschuldigen muss, bevor man Wasser ausschüttet, weil man aus Versehen einen Geist treffen könnte. Hier würde ich das natürlich nicht machen, aber ich habe das nie verloren.


Sie machten, nachdem mit 17 Ihr Freund Auri starb, eine schwere Zeit durch, verließen den Dschungel Richtung Schweiz. Später lebten Sie in Japan, jetzt in Bayern. Wie hat das Ihre Identität beeinflusst?

In dieser Krise habe ich den Bezug zur Urwaldkultur und den „Aberglauben“ kurzzeitig verloren. Aber sobald ich die Trauer bewältigt hatte und zurückging, habe ich meine Identität wieder gefunden. Der Glaube der Fayu ist einfach ein Teil von mir. Was Menschen hier als Realität sehen, bezeichne ich nicht als Realität. Das Leben ist so vielfältig und so viel größer, als man sich es hier vorstellt. Es gibt Dinge, die man einfach nicht erklären kann.


Hat das Wort „Zivilisation“ für Sie eine andere Bedeutung als für jemanden, der in der westlichen Kultur groß wurde?

Hier bedeutet „Zivilisation“ Infrastruktur – Häuser und Straßen. Für die Stämme ist Zivilisation das, was man nicht sehen kann: das Unsichtbare, das Miteinander, das Emotionale, die Psyche. Wir behaupten, dass wir hier in einer Zivilisation leben, sind aber dermaßen brutal zueinander – körperlich nicht, aber seelisch. Diese Brutalitäten gibt es in den Stämmen nicht. Was ist also zivilisierter: Jemanden zu mobben? Machtgier und Neid zu empfinden? So etwas ist mir fremd. Da frage ich mich oft, ob die Menschen hier wirklich zivilisiert sind.


Schmerzt es Sie zu sehen, wie entfremdet wir hier von der Natur leben?

Ich stand einmal mit einem Häuptling in Papua-Neuguinea auf einem Hügel. Eine Firma hatte gerade einen großen Teil seines Landes abgeholzt. Das Holz wurde illegal nach Singapur exportiert. Er sagte zu mir: „Schwester, wenn eines meiner Wildschweine seinen Lebensraum zerstören würde, würde ich es mit der Begründung töten, dass es verrückt geworden ist.“ Er hatte recht: Wenn unsere Schweine oder Kühe ihren Lebensraum zerstören würden, wäre uns klar, dass das krank ist. Aber wir Menschen machen genau dasselbe.


Wie wichtig ist für Sie der Begriff „Heimat“? Gibt es den für Sie?

Heimat ist für mich ein ganz starker Begriff. Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich ihn beschreiben als Neuguinea oder die melanesische Kultur. Kultur und Heimat gehören für mich eng zusammen. Aber vielleicht empfinde ich in fünf oder zehn Jahren Deutschland als Heimat. Identität hat für mich, wie bei den Stammesleuten, mit der Natur zu tun. Ich identifiziere mich über meine Erde, die Natur, meinen Stamm – nicht durch meinen sozialen Stand, mein Aussehen oder andere Dinge, über die man sich hier identifiziert.


Was empfinden Sie noch immer als Luxus?

Heißes, fließendes Wasser. Das ist für mich bis heute der Inbegriff von Luxus.

Der Film endet mit Ihrer Rückkehr in den Dschungel. Wie ging es danach weiter? Wo lebt die Familie Kuegler heute?

Meine Eltern sind 2006 nach Deutschland zurückgekommen, sie sind jetzt pensioniert. Meine Geschwister sind in Amerika, ich in Bayern, aber es hat für uns alle lange gedauert, bis wir uns hier zurechtgefunden haben. Die Sehnsucht ist immer noch da. Wer weiß, vielleicht landen wir alle eines Tages wieder im Urwald.

Dschungelkind
Sabine Kuegler zog als Achtjährige mit ihrer Familie in den Urwald von Papua-Neuguinea, wo sie bis zu ihrem 17. Lebensjahr blieb. In deutschen Kinos ist die Verfilmung ihres autobiografischen Romans bereits angelaufen, in Österreich ist der Streifen ab 18.März zu sehen.

Infos: www.dschungelkind-film.de

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2011)

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