Betty Anne Waters: "Der Albtraum war vorbei!"

Albtraum vorbei
Albtraum vorbei(c) REUTERS (LUCAS JACKSON)
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Von Oscar-Gewinnerin Hilary Swank verkörpert: Eben wurde die unglaubliche Geschichte von Betty Anne Waters verfilmt. Im Interview schildert sie, wie sie 18 Jahre um die Freiheit ihres Bruders kämpfte.

Wie fühlt sich das an, auf der Leinwand von Oscar-Gewinnerin Hilary Swank verkörpert zu werden? „Darüber bin ich noch immer nicht hinweg“, sagt Betty Anne Waters. „Ich war in Ekstase, als ich das hörte. Hilary hatte mich in Boys Don't Cry und Million Dollar Baby begeistert.“ Hollywood dagegen war begeistert von Betty Anne Waters' unglaublicher Geschichte: 18 Jahre lang kämpfte sie um die Freiheit ihres Bruders Kenny, der zu Unrecht wegen Mordes verurteilt wurde.

Betty Anne Waters ist der deutsche Titel des bald anlaufenden Films, der Originaltitel Conviction ist doppeldeutig: Er steht für das Urteil gegen Kenny und für die Überzeugung, die Betty Anne Waters Kraft gab. Rückblenden in die 1960er zeigen das innige Verhältnis der Geschwister: Zwei von neun Kindern von verschiedenen Vätern, die auf einer Farm in Massachusetts aufwuchsen und von der Mutter vernachlässigt wurden. „Kenny war ein Jahr älter als ich. Wir taten Dinge, die wir eigentlich nicht hätten tun dürfen“, erinnert sich Betty Anne Waters und zieht zum Vergleich eine berühmte US-Serie über kleine Lausbuben und -mädchen heran: „Wir waren wie The Little Rascals, wie Die kleinen Strolche.“

Unschuldig verurteilt. Zum Spaß brach das Duo in fremde Häuser ein – und wurde erwischt. Als Betty zwölf Jahre alt war, entzog man ihrer Mutter das Sorgerecht für alle neun Kinder: Betty pendelte von einer Pflegefamilie zur nächsten, Kenny landete in einer Reformschule. Als beide in ihren Heimatort Ayer zurückkehrten, hatte Kenny weiter Ärger mit dem Gesetz: Eskapaden wie betrunkene Barschlägereien machten ihn zum Gewohnheitsverdächtigen der Polizei. „Kenny war ein Mensch, der immer in Schwierigkeiten geriet, obwohl er es nie darauf anlegte“, sagt Betty. Der schwierigste Schicksalsschlag kam 1982: Kenny wurde verhaftet, man warf ihm den brutalen Mord an einer Nachbarin vor: Es gab zwar weder Zeugen noch handfeste Beweise, doch die Aussagen zweier unzufriedener Ex-Freundinnen (darunter die Mutter von Kennys Tochter) genügten für eine Verurteilung zu lebenslanger Haft ohne Bewährung.

Alle paar Tage rief er seine Schwester aus dem Gefängnis an – bis sie plötzlich ein Monat lang nichts von ihm hörte: Als der letzte Berufungsantrag abgelehnt worden war, hatte Kenny versucht, sich umzubringen, und wurde 30 Tage in Isolationshaft gesteckt. Beim Wiedersehen kam es zu dem Gespräch, das beider Leben verändern würde: Kenny erklärte, er halte es nicht aus, unschuldig lebenslang zu „sitzen“. Betty müsse ihn herausholen, indem sie sich an einer „Law School“ einschreibe – für ein Jus-Aufbaustudium an einer US-Hochschule.


Neuer Lebensinhalt. „Später wurde ich oft gefragt, ob ich viel geopfert hätte. Aber das kann ich nur verneinen: Die Aufgabe wurde mein Lebensinhalt!“, betont Betty. Schwere Jahre folgten: Vor der Law School musste sie das College abschließen, zur Promotion verließ sie ihr Ehemann und beschuldigte Betty, ihren Bruder mehr zu lieben.

Ein paar Jahre später blieben ihre Söhne, damals zehn und zwölf Jahre alt, beim Vater, weil sie nicht mit der Mutter näher zu deren Ausbildungsstätte ziehen (und Schulen wechseln) wollten. Nicht zuletzt, berichtet Betty, „gab es eine Phase, in der ich die Rechtsprechung zu hassen begann, weil sie mir so ungerecht erschien. Früher hatte ich mir immer einfach gedacht: ,Wie könnte ein unschuldiger Mensch im Gefängnis landen?‘ Nun sah ich das anders.“

Wirken sich Geld und Einfluss auf Urteile aus? „Mein Bruder hat da etwas Bezeichnendes gesagt: ,Im Gefängnis habe ich nie einen Millionär gesehen‘“, räumt Betty ein. „Es scheint also eine Rolle zu spielen.“ Lange schien ihr die Lage aussichtslos: Mit einem Job in „Aidan's Pub“ hielt sie sich über Wasser und ging zur Law School, um ihrem Bruder Hoffnung zu geben. Die Idee, wie sie Kennys Unschuld beweisen könnte, kam aber erst, als sie vom „Innocence Project“ las: „Das Wunder, das ich suchte!“ Die von Rechtsprofessor Barry Scheck mitgegründete Non-Profit-Organisation arbeitet für aufgrund von Indizienbeweisen Verurteilte, die ihre Unschuld beteuern: Als Grundlage dienen dabei nachträgliche DNA-Tests.

Durch die Unterstützung des „Innocence Project“ sowie ihrer besten Freundin, Verteidigerin Abra Rice, gelangte Betty nach Jahren langen Wartens ans Ziel: Sie spürte angeblich schon vernichtete Beweismittel auf, Blutspuren ermöglichten den DNA-Test, der Kennys Unschuld bewies (das Verbrechen bleibt aber ungelöst). Am 19.Juni 2001 wurde er freigesprochen.

Filmende ohne Tragik. Neun Jahre später wurde die lang geplante Verfilmung nun Wirklichkeit: „Es geht um Kenny, nicht um mich“, sagt Betty Anne Waters. „Ich habe mich erst damit beschäftigt, als das Projekt gesichert war.“ Kenny durfte das nicht mehr erleben: Vier Monate nach seiner Freilassung erlag er den Folgen eines Sturzes – was im Film nicht erwähnt wird, angeblich wegen negativer Reaktionen bei Testvorführungen. „Ich hätte es auch nicht gewollt“, sagt Betty: „Es geht doch um Kennys Freiheit! Und diese letzten Monate seines Lebens waren die besten, die er hatte. So viele Leute wollten mit ihm reden, er wurde von Oprah eingeladen. Natürlich ist es traurig, aber er starb als freier Mann! Der Albtraum, im Gefängnis zu verenden, war vorbei.“

Auf Bettys Leben hatte die Hollywood-Version aber kaum Einfluss: Sie ist heute Mitbesitzerin von „Aidan's Pub“, wo sie die Bücher führt, und unterstützt das „Innocence Project“, etwa mit Vorträgen gegen die Todesstrafe. Zur Vorstellung des Films kam sie dennoch mit: „Eine ganz andere Welt, die mir nicht liegt. Es war eine Ochsentour: Ich habe Mitgefühl für Menschen, die so etwas die ganze Zeit machen!“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2011)

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