Die schreckliche Familie trifft sich in Cannes

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Die 64. Filmfestspiele Cannes werden für die Weltpremiere von "The Tree of Life" in Erinnerung bleiben - und als Jahrgang der Porträts furchtbarer Familien.

Ron Mann steht auf dem Balkon seines Büros, keine 100 Meter vom großen Festival-Palais in Cannes entfernt, und lässt den Blick über die Menschenmengen auf der Croisette schweifen: „Ich war 1979 hier, als Francis Ford Coppolas Apocalypse Now Premiere hatte“, erinnert er sich, „das ist das Einzige, was man damit vergleichen kann: Diese Aufregung, diese Erwartungen, das hat es bei keinem Film seither gegeben.“ Die Rede ist von Terrence Malicks Epos The Tree of Life, wie Coppolas Vietnamfilm nach einer vierjährigen Produktionsphase bereits vor der ersten Projektion von Mythen umrankt.

Am Montag, zur Mitte der 64. Filmfestspiele von Cannes, kommt es bei der Uraufführung von Malicks Film zu tumultartigen Szenen: Abendgala-Filme haben in Cannes ihre Pressevorführung um 8.30 Uhr morgens im Grand Théâtre Lumière, der Saaleinlass beginnt eine Dreiviertelstunde vorher. Bei The Tree of Life drängen sich da schon die Massen, im Chaos kommt man kaum in den Saal, am Ende wird sogar die Polizei gerufen, um einzuschreiten.

Brad Pitt als strenger Patriarch.
Der Film des großen Hollywood-Ausnahmeregisseurs Malick gibt sich dann aber so visionär, dass es den Aufruhr zu rechtfertigen scheint: Eine Familiengeschichte im Texas der 1950er als Bewusstseinsstrom-Montagefolge von kosmischen Dimensionen. Kaum schockiert die Nachricht vom Tod ihres Kindes den Vater (Brad Pitt) und die Mutter (Jessica Casthain), gibt es eine lange Rückblende, die beim Urknall anhebt und dann die Entstehung der Erde und des Lebens über Einzeller und Amphibien bis zu Dinosauriern verfolgt: Ein aggressiver Dino setzt den Fuß auf das Gesicht eines Darniederliegenden, lässt dann doch Gnade walten. Gnade und Natur sind die beiden widerstreitenden Grundprinzipien in Malicks berauschender Bildersinfonie: Auch in der Familie kollidieren der strenge Patriarch mit seinen Gesetz-der-Stärkeren-Lehrmethoden (Pitt spielt außerordentlich) und die sanftmütige Mutter.

Sowohl als episches Event wie als ehrfurchtgebietender künstlerischer Kraftakt überstrahlt Malicks exzentrische Parabel die 64.Ausgabe von Cannes: Immer wieder kreisen die Debatten um diesen Film, die Reaktionen sind eher positiv, aber gespalten und heftiger als sonst – weil bei Cannes-Premieren den Filmen nicht die in der heutigen Medienmaschinerie üblichen Einschätzungen vorauseilen: „buzz“ (die Meinung anderer Kritiker) und „spin“ (die von Marketingabteilungen gesteuerten Kampagnen). Malicks Film kündigt seine biblischen Proportionen bereits eingangs mit einem Zitat aus dem Buch Hiob an: „Wo warst du, als ich die Welt geschaffen habe?“ Wie bei Stanley Kubricks 2001 will hier jemand quasi das Erzählsystem Kino neu schaffen: Ein Werk von so wahnwitziger Ambition kann im Cannes-Wettbewerb eigentlich nur als Sieger hervorgehen – oder gleich übergangen werden. Auch ein Nebenpreis wäre eine Niederlage. Im Fall von Apocalypse Now löste man dieses Problem salomonisch: Coppola teilte sich damals die Goldene Palme mit Volker Schlöndorff (Die Blechtrommel). Könnte es heuer wieder so ein Duo geben?

Nicht, wenn es nach Ron Mann geht: „Mir war The Tree of Life viel zu christlich: wie in der Sonntagsschule!“ Mann, einer der renommierten engagierten Dokumentaristen der USA (Comic Book Confidential, Grass) betreibt mittlerweile auch einen Filmverleih: Er vertrieb in Amerika etwa den letztjährigen Cannes-Sieger, den thailändischen Dschungeltraum Uncle Boonmee. Auf eine vergleichbare Entdeckung jenseits der erwarteten Malick-Hysterie warten Mann und die internationale Filmkritik heuer aber vergeblich. Ein Gefühl leiser Enttäuschung macht sich breit, auch wenn die „Trades“, die täglich erscheinenden Cannes-Hefte von Branchenblättern wie „Variety“, verkünden, dass der neben dem Festival abgewickelte riesige Filmmarkt heuer die besten Bilanzen seit Langem eingebracht habe.

Rabeneltern, Höllenkinder.
Sonst wird bei Festivalberichten verzweifelt Trendforschung betrieben, eine Handvoll unterschiedlicher Filme notdürftig zusammengespannt, um aktuelle Tendenzen zu behaupten. Aber Cannes 2011 ist eindeutig das Jahr der schrecklichen Familie. Das beginnt am ersten Morgen mit dem überkandidelten Wettbewerbsbeitrag Let's Talk About Kevin: Die schottische Regisseurin Lynne Ramsay will den Zuseher quasi in den Kopf einer Mutter (Tilda Swinton) sperren, deren Höllenkind ein Highschool-Massaker begangen hat – quasi der Horrorfilmklassiker Das Omen als stilisiertes Sozialdrama. Noch irritierender geht es am selben Tag mit dem französischen Beitrag Polisse weiter: Die Regisseurin mit dem Künstlernamen Maïwenn erzählt von der heldenhafte Arbeit der Pariser Kinderschutz-Spezialeinheiten, als hätte sie eine peinliche Fernsehserie irgendwie auf zwei Stunden zusammengeschnitten.

Dann kommen symbolische Vaterfiguren und hinterlassen wenig Eindruck: Nanni Morettis psychoanalytische Papst-Satire Habemus Papam hat einen famosen Michel Piccoli in der Titelrolle, bleibt aber zu milde, die inkonsequente Privatfilmspielerei Pater vom französischen Veteran Alain Cavalier erschließt sich nur einem französischen Publikum, das immer wieder in Lachstürme ausbricht, während die internationalen Berichterstatter ratlos zusehen.

Kontroverser Austrobeitrag. Dafür sorgt dann der österreichische Debütant Markus Schleinzer am ersten Wochenende mit dem perversesten Ersatzvater des Festivals für Aufsehen: Die Titelfigur seines Täterfilms Michael ist ein Pädophiler, der ein zehnjähriges Kind im Keller gefangen hält, während er nach außen hin eine unauffällige Allerweltsexistenz mit Versicherungsjob führt. Hauptdarsteller Michael Fuith brilliert als Verkörperung der Banalität des Bösen, der Film setzt auf kühle Verstörung in der Manier von Michael Haneke, spielt mit Publikumserwartungen und entwirft eine Spannungsdramaturgie, die er zuletzt auch überspannt. Michaelist ein vergleichsweise „kleiner“ Film für den Wettbewerb – in einem typischen Cannes-Moment wird der Marsch der Crew über den Roten Teppich dennoch von Massen flankiert, die der Abendgala von Pirates of the Carribean4 harren –, aber er sorgt mit seinem kontroversen Thema und Ansatz für einige der stärksten Reaktionen – und bei vielen französischen Kritikern für regelrechten Hass. (Vielleicht hätten sie lieber das in einer Nebensektion präsentierte zweite Austro-Regiedebüt gesehen: Karl Markovics' Atmen ist konventionell, warm und optimistisch, hat allerdings auch eine Rabenmutter, die ihrem Sohn gesteht, dass sie ihn als Baby mit dem Polster ersticken wollte.)

Unmittelbar auf die Michael-Premiere folgt ein resoluter Gegenentwurf der zweimaligen Cannes-Sieger Jean-Pierre und Luc Dardenne aus Belgien: Le gamin au vélo (The Kid With a Bike) bietet den schrecklichsten Vater des Festivals (selbst Brad Pitts strenger Patriarch bei Malick ist liebevoller), dafür in der französischen Starschauspielerin Cécile de France eine neorealistische Engelsfigur. Nachdem der Papa das titelgebende, bemerkenswert sture Kind auf dem Fahrrad grausam selbstverständlich von sich weist, trägt sie zur Erlösung des Jungen bei – wie auch einige forcierte Drehbuchideen.

Dennoch wird der Film der Dardennes am wohlwollendsten aufgenommen, neben Aki Kaurismäkis in verlässlicher Manier abgewickelter Immigrations-Tragikomödie Le Havre: Willkommene Abwechslung nach so viel Depression. Selbst Takashi Miikes stilsicheres Remake des japanischen Samurai-Klassikers Harakiri – noch eine Familientragödie... – sorgt für flaue Stimmung, eben weil es der erste Cannes-Wettbewerbsfilm in 3-D ist: Durch die vom Blick durch die Brillen bewirkte Lichtarmut wirkt die dunkle Palette des Films streckenweise wie ein reines Schwarzbild.

Dabei ist ein sehr lustiger Film im Wettbewerb: das israelische Vater-Sohn-Drama Hearat Shulayim (Footnote). Joseph Cedar inszeniert die Konfrontation zweier gegensätzlicher Talmudexperten in einem rasanten Stil, der Vergleiche mit Die wunderbare Welt der Amélie heraufbeschworen hat. Aber statt dem Eskapismus dieses Franzosen-Märchens bietet Cedar eine kafkaeske Auseinandersetzung mit ernsthaften Themen, die er als gleichermaßen absurd wie profund erkennt: Die entscheidende Moraldebatte findet in einem Büro von der Größe einer Besenkammer statt und verläuft entsprechend komisch. Am Ende mutiert der Film bei einer offiziellen Staatsgala zum absurden Reigen und übt herbe Kritik am israelischen Nationalismus.


Ersatzfamilie im Bordell. Der Titel von Cedars Film legt die vorherrschende Einschätzung der 64. Cannes-Ausgabe nahe: eine Fußnote. Denn viele renommierte Autorenfilmer enttäuschen: Pedro Almodóvar ergeht sich in La piel que habito (The Skin I Live In) in leerer Genrefilmspielerei, Lars von Trier bietet mit Melancholia eine Art bombastisch-blöden Unglückskontrapunkt zu Malicks kosmischem Familiendrama, sorgt aber mit seiner üblichen Pressekonferenzprovokation diesmal für einen Eklat – nachdem er sich selbst als Nazi bezeichnet, erklärt ihn das Festival trotz offizieller Entschuldigung zur „Persona non grata“. Neben der Malick-Premiere ist es das zweite Ereignis in Cannes. Dieser Rummel überschattet die Entdeckungen des Festivals abseits des Wettbewerbs: das einfallsreiche Martial-Arts-Drama Wu Xia von Hongkong-Meister Peter Chan Ho-Sun, der epische und virtuose Sexkrimi Koi no tsumi (Guilty of Romance), mit dem sich der Japaner Sion Sono einmal mehr als Genie der extremen Gefühlslagen zeigt, oder die anrührende Animationsbiografie Tatsumi über den Manga-Pionier von Eric Khoo aus Singapur.

Nicht zuletzt gibt es zwei andere Wettbewerbsfilme, die auf ihre Art ebenso eindrucksvoll sind wie Malicks Überwerk. Drive, eine US-Produktion des Dänen Nicolas Winding Refn mit Ryan Gosling als Auto-Stuntman, der sich nebenbei als Fluchtfahrer bei Überfällen verdingt, ist ein Actionkrimi, der durch virtuos gestaltete Atmosphären und superb genutzte Stadtlandschaften driftet.

Ebenfalls atmosphärisch angelegt und in seinen stilistischen Wendungen immer wieder überraschend ist einer der unterschätztesten Bewerbsbeiträge, L'Apollonide (House of Tolerance) vom französischen Exzentriker Bertrand Bonello. Seine Geschichte über die letzten Jahre eines Pariser Bordells zu Anfang des 20.Jahrhunderts ist zugleich ein Tribut an die dekadente Literatur der Ära und ein ganz ungewöhnlicher Frauenfilm: Trotz ausgiebiger Nacktheit hat diese Studie von Ritualen, Abhängigkeiten und Hoffnungen in erlesen ausgeleuchteten, opulent ausgestatteten, aber ungewöhnlich und traumgleich ineinander montierten Tableaus nichts Sexistisches. Im Gegenteil: Die im Überlebenskampf zusammengeschweißten Prostituierten waren eigentlich die einzige solidarische (Ersatz-)Familie in Cannes.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2011)

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