62. Berlinale: Mit Werner Herzog im Todestrakt

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Werner Herzogs Dokuserie "Death Row" stellt die Eröffnungsfilme des Festivals in den Schatten: ein französisches Revolutionsdrama mit Diane Kruger und das diplomatische Debüt "Kuma" des Österreichers Umut Dag.

Er würde der Todesstrafe respektvoll widersprechen, sagt Werner Herzog im Vorspann seiner bei der Berlinale vorgestellten Fernsehdokumentationsreihe Death Row. Herzog erzählt, dass man sich im Bundesstaat Utah bis vor Kurzem aussuchen konnte, ob man per Giftspritze oder Erschießungskommando umgebracht wird. Wie ein außerirdischer Besucher begegnet der deutsche Regisseur den Todestrakt-Insassen in einem texanischen Gefängnis. Wie einer, der erst kürzlich auf diesem Planeten gelandet ist und versucht zu verstehen. Ein Ethnograf aus einer anderen Welt.

Er begegnet Menschen, die Leben beendet haben. Begegnung ist vielleicht das falsche Wort: Man sitzt sich gegenüber, eine Glasscheibe trennt die Schuldigen von den Unschuldigen, die Glücklichen und die Verdammten. Immer wieder spiegelt sich Herzogs Gesicht im Sichtfenster: Seine offenen Augen und sein wacher Geist legen sich über die Konturen der Insassen. Peter Zeitlingers Kamera bleibt lange genug auf diesen Gesichtern, um sie beinahe reliefartig aus der Leinwand hervortreten zu lassen. Öfters muss man an Herzogs Film Höhle der vergessenen Träume denken: Die ältesten je gefundenen Höhlenmalereien sind darin in 3-D-Bildern für die Ewigkeit konserviert.

Tägliche (Alp-)Träume in der Todeszelle

Räumliche Wahrnehmung spielt auch bei Death Row eine Rolle, aber es geht nur um die Begrenztheit des Raums. Herzog sagt jedem Insassen, dass ihn die Schuldfrage nicht interessiert. Sondern die Seelenlandschaft eines Menschen, der weiß, dass er sterben wird. Darin sucht Herzog das, was er ekstatische Wahrheit nennt. Die Wahrheit, die in menschlichen Gefühlen liegt. Die Wahrheit zwischen den Dingen, erst erkennbar, wenn man nichts mehr zu verlieren hat, wenn man am Abgrund steht. Immer wieder fragt er die Männer und die eine Frau nach ihren Träumen. Einer ist für den Mord an seiner damaligen Freundin und ihren zwei Söhnen zum Tod verurteilt. Er sagt, er träumt eine Episode der Fernsehserie The Twilight Zone nach: Ein Häftling muss darin immer wieder zum letzten Gang antreten. Im Moment seines Todes erwacht er erneut in der Zelle. Death Row ist kein Film für oder wider die Todesstrafe, sondern eine Porträtserie über zum Tod verurteilte Menschen.

Mit Polizeidokumenten, Archivmaterial und Zeugenaussagen werden die Verbrechen rekonstruiert. Nicht um des Spektakels willen, sondern um Philanthropen-Romantik zu verunmöglichen. Man soll sie nicht vermenschlichen, diese Frau, die eine junge Mutter mit einem Plastiksack erstickt hat, gibt eine Staatsanwältin zu Protokoll. Herzog erwidert, dass man sie nicht vermenschlichen muss: Sie ist schon ein Mensch. Weil der Regisseur ihnen ohne falsches Sentiment begegnet, öffnen sich die Gefangenen vor seiner Kamera. Die blendet nicht ab, nachdem das Gespräch zu Ende ist, sondern lässt die Menschen noch ein paar Sekunden nachwirken. Das, was bleibt, ist ihre Würde.

Herzogs humanistisches Monument stellt die Eröffnungsfilme der Berlinale in den Schatten. Das Festival begann Donnerstag mit Benoît Jacquots Historiendrama Lebewohl, meine Königin: Ein Sittengemälde des verfallenden Hofstaats von Kaiserin Marie Antoinette (perfekt besetzt: Diane Kruger). Die wälzt sich 1789 in ihrer Bettstatt, blättert durch Modezeitschriften, schwärmt von Stoffen und Ornamenten. Das Gewebe ihres Staats löst sich derweil auf. Als man bei Hof erfährt, dass Aufständische die Bastille gestürmt haben, soll gerettet werden, was schon untergegangen ist. Regisseur Jacquot interessiert sich mehr für die Diener als die Herrschenden. Pomp und Prunk relativiert er mit einem intimen Kamerakonzept. Häufig bleiben Bilder im Nacken von Marie Antoinettes Vorleserin (Léa Seydoux), rasen mit ihr durch Gewölbe. Unrast und Panik ziehen in Wischbildern vorbei. Plötzlich ist selbst Versailles ein Ort der Bewegung.

Mit Auflehnung oder gar Revolution kann das Kino von Umut Dag wenig anfangen. Mit seinem Spielfilmdebüt Kuma eröffnete der österreichische Regisseur kurdischer Herkunft die Berlinale-Nebensektion „Panorama“. Der Titel ist der türkische Begriff für eine Zweitfrau: offiziell untersagt, traditionell immer noch verbreitet und gesellschaftlich häufig geduldet. In einem anatolischen Dorf heiratet ein türkischstämmiger Wiener ein Landmädchen: ein „Dorftrampel“, wie es heißt. Es ist eine Scheinehe: Die rehäugige Ayse soll die krebskranke Familienmutter ersetzen, wenn die stirbt – für die Kinder da sein, den Haushalt führen, dem Mann beistehen. Einige Wochen später trauert die Familie tatsächlich, aber um den Vater, der plötzlich verstorben ist, während die Mutter den Krebs bezwungen hat. Die Karten werden neu gemischt, Ayse versucht sich an einem selbstbestimmten Leben. Mit breiten Strichen pinselt Dag sein Familienporträt: Anfänglich gefällt die unaufgeregte Beschreibung zweier zwischen Tradition und Moderne eingerasteter Generationen. Aber nur bis das Drehbuch alle melodramatischen Schrauben kräftig anzieht, um an den vorhersehbaren Endpunkt zu kommen.

Kraftlose Gemeinplätze bei Umut Dag

Knackpunkt ist Ayse: Erst reagiert sie verständlich zurückhaltend auf die aufgezwungenen Lebensumstände, dann baut sie der Regisseur zur Märtyrerin auf. Mit Geduld und Verständnis durchleidet sie Beleidigungen der Stiefschwestern, putzt, kocht, schläft ohne aufzumucken mit einem Mann, der ihr Vater sein könnte. Später gibt sie im Supermarktlager-Versteck den eigenen Gefühlen nach, landet in den Armen eines Kollegen. Bis die Schwiegermutter sie findet und an den schwarzen Locken nach Hause schleift. Statt einer Explosion folgt die Aussöhnung. Kuma tut weh: Weil das Melodram trotz hervorragender Schauspieler in kraftlosen Gemeinplätzen stecken bleibt. Und vor allem, da Dag keine Stellung bezieht zur Geschichte und den Figuren. Er will alle verstehen und alle verstanden wissen und übersieht, dass Diplomatie im Kino nur langweilt.

Das Berlinale-Wochenende

Als Berlinale-Stargäste kommen Samstag u.a. Angelina Jolie, die ihr Regiedebüt vorstellt, und Bollywood-Publikumsliebling Shah Rukh Khan, der trotz Krankheit anreist.

Im Wettbewerb des Festivals laufen indessen zwei Vorabfavoriten: Christian Petzolds deutscher Beitrag „Barbara“ mit Nina Hoss und das Geiseldrama „Captive“ vom Filipino Brillante Mendoza mit Isabelle Huppert.

Österreich ist mit „zounk!“ von Billy Roisz in der Kurzfilm-Konkurrenz am Samstag dabei.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.02.2012)

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