Körper und Soul im Bordell des Fin de Siècle

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Der französische Regisseur Bertrand Bonello über seinen großen historischen Bordellfilm, unverfilmbare Ideen und den Wandel von Frauenkörpern.

Die Presse: „Haus der Sünde“ schildert die letzten Monate eines Pariser Nobelbordells an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Der Film heißt im Original wie das Bordell: „L'Apollonide“. Warum?

Bertrand Bonello: Das war der Name des Hauses, in dem ich aufgewachsen bin. Es war kein Bordell, aber voller Leben: Das war ideal, so hatte der Name für mich emotionales Gewicht. Aber natürlich spiele ich auch mit der mythischen Resonanz des Gottes Apollo.

Interessant ist, wie Sie die Solidarität der Prostituierten betonen. So ist es eine Art Ersatzfamilienfilm, zugleich ein Gefängnisfilm: Die Mädchen dürfen nicht aus dem Haus.

Ich glaube, dass das zusammenhängt: Weil es wie ein Gefängnis ist, werden die Frauen zusammengeschweißt. Ich hatte Szenen geschrieben, in denen sie streiten und eifersüchtig sind – aber nach einer Weile entfernte ich sie. Es schien falsch, zu „geschrieben“. Meine Recherchen zur damaligen Prostitution haben das bestätigt: Es gab großen Zusammenhalt, weil sie es schwer hatten.

Wie haben Sie recherchiert?

Es gibt eine Handvoll guter Bücher, in Polizeiarchiven entdeckte ich Faszinierendes. Von Prostituierten fand ich nur ein paar Briefe, fast alle Dokumente sind von Männern: Schriftsteller, Poeten, Maler. Man kann sich ein gutes Bild davon machen, was abends in den Salons passiert ist. Zum Leben der Frauen tagsüber ist wenig belegt. Aber es gibt die exzellente Studie der feministischen Historikerin Laure Adler: „Les maisons closes 1830–1930“ schildert den Ablauf des Lebens in Freudenhäusern: den täglichen Zeitplan, wann ein Doktor zur Kontrolle kam usw.

Und visuell? Gibt es so etwas wie E. J. Bellocqs Fotos vom Rotlichtviertel in New Orleans?

Ich fand nur Fotografien zu Werbezwecken: Postkarten, teils sehr schön und witzig, aber natürlich theatralisch – lauter Posen. Ich las viel Dekadenzliteratur, nicht nur über Prostituierte, um in die Atmosphäre einzutauchen.

Warum spielt der Film im Fin de Siècle?

In Frankreich wurden Bordelle 1946 gesetzlich geschlossen, aber die Nachkriegszeit fand ich nicht sehr inspirierend, also entschied ich mich für das ausgehende 19. Jahrhundert. Ich liebe diese Zeit, und sie hat symbolische Kraft: Mit dem 20.Jahrhundert endet eine klassische Vorstellung von der Welt, etwas Neues beginnt. Die Metro, das Telefon und andere Phänomene des modernen Lebens halten Einzug in Paris.

Wie haben Sie das Drehbuch konzipiert? Der Film ist ja nicht linear, sondern eher assoziativ, in kunstvoll verschränkten Schichten.

Anfang und Schluss waren mir bald klar, aber dazwischen wollte ich ein Gefühl, als würde die Nadel auf einer Platte hängen bleiben. Die zwei großen Faktoren des Kinos sind ja Zeit und Raum: In diesem Film gibt es keinen Raum – das ist das Sujet. Also projizierte ich den Raum in die Zeit, etwa mit Split-Screens und Rückblenden: um Luft an einem Ort wehen zu lassen, der erstickend ist.

Dazu kombinieren Sie Soul aus den Sixties.

Das passte für mich einfach ideal. Vielleicht hat es mit der Geschichte der Sklaverei zu tun, die in der schwarzen Musik auch spürbar ist. Als ich diesen Sixties-Soul hörte, war mir klar: Das ist der Klang des Films!

Das Zentrum des Films ist „die Frau, die lacht“: eine Prostituierte, die einem Freier das Gesicht zerschneidet, zu einem ewigen Grinsen – wie Victor Hugos „Lachender Mann“.

Ich arbeite nie mit Träumen, aber als ich „L'Apollonide“ zu schreiben begann, träumte ich drei Nächte hintereinander vom Stummfilm „The Man Who Laughs“ nach Victor Hugo. Den hatte ich als Kind im Fernsehen gesehen. An die Geschichte konnte ich mich nicht erinnern, aber an den Anblick des Titelhelden: ein sehr starkes Bild. Die Träume vermengten sich mit einem Filmprojekt von mir über eine Frau, die ihr Gesicht verliert.

Viele Kollegen von Ihnen spielen mit. Ist das auch ein Kommentar zur französischen Filmwelt: alles Zuhälter und Prostituierte?

Das war keine Absicht, sondern entweder Zufall oder unbewusst! Ich habe Regiekollegen wie Jacques Nolot, Noémie Lvovsky und Xavier Beauvois einfach engagiert, weil sie gute Schauspieler sind. Ich habe ja keine Figuren im klassischen Sinn, Schauspieler beklagen sich immer: „Ja, aber was ist meine Figur?“ Also rief ich Freunde an und bot ihnen keine bestimmte Rolle an, sondern sagte nur: „Willst du vorbeikommen?“

Sie gelten als großer Außenseiter im französischen Gegenwartskino...

Ich fühle mich auch sehr allein. Es ist hart. „L'Apollonide“ ist mein erster Kassenerfolg in Frankreich, vielleicht hilft das. Mich faszinieren Leute wie Jacques Nolot und Leos Carax, aber sie sind auch Außenseiter. Im französischen Mainstream und Kunstkino schätze ich zwar manche Kollegen persönlich– aber wenn ich ihre Filme sehe, fühle ich mich dem ausländischen Kino sehr nahe.

Was waren Ihre Kriterien beim Casting? Im Film geht es ja sehr stark um die Körper.

Beim Casting – nicht nur für die Prostituierten in „L'Apollonide“, sondern für alle Rollen in meinen Filmen – stelle ich zwar Fragen. Aber wirklich wissen will ich, wie die Schauspieler sich bewegen. Wenn ich mit einer Darstellerin im Café sitze, warte ich immer auf den Moment, wenn sie zum ersten Mal auf die Toilette geht: Da sieht man, wie sie sich wirklich bewegt. Bewegungen kann man zwar inszenieren, aber man spürt sofort, wenn sie nicht echt sind.

Haben Sie deswegen manche Schauspielerinnen trotz ihrem modernen Aussehen ausgesucht?

Ja. Schon weil sich die Ernährung geändert hat, haben sich die Formen der Körper verändert. Aber es wäre lächerlich, nur nach Körpern zu suchen, die aussehen wie damals. Wir haben da eine falsche Vorstellung. Wegen vieler Gemälde und Fotos glauben wir, dass die Frauen damals sehr üppig waren. Aber man zeigte sie so, weil es als Zeichen guter Gesundheit galt. Heute sind auch nicht alle Frauen ganz dünn und 1,80 Meter groß. Aber die kommen auf die Titelblätter.

Zur Person

Bertrand Bonello, 1968 in Nizza geboren, widmet sich in seinen Filmen häufig den Themen Sexualität und Prostitution. In „Der Pornograf“ ließ er etwa Sexszenen von Pornodarstellern spielen. „Haus der Sünde“ – derzeit in österreichischen Kinos zu sehen – zeichnet das Geschehen in einem Nobelbordell rund um 1900 nach. Es ist ein Tribut an die dekadente Literatur der Ära und ein ganz ungewöhnlicher Frauenfilm und wurde letztes Jahr in Cannes gezeigt. Weitere Filme: „Tiresia“ (2003) und „De la guerre“ (2008).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2012)

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