Filmfestival Cannes: Stadt der Illusionen

Filmfestival Cannes Stadt Illusionen
Filmfestival Cannes Stadt Illusionen(c) EPA (CANNES FILM FESTIVAL)
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Der Wettbewerb der 65. Filmfestspiele von Cannes sorgte trotz einiger Höhepunkte für eine gewisse Festivalmüdigkeit. Ist die traditionelle Form der Großkinoevents ein Auslaufmodell? Eine Analyse.

Eine goldene Kitschkutsche fährt am Fuß des Vesuvs durch Neapels Vorstadt: Die Kamera folgt ihr von oben bis zur Einfahrt in ein barockes Schloss, wo eine Hochzeit von solcher Opulenz und Vulgarität gefeiert wird, dass Federico Fellini vor Neid erblassen würde. Mittendrin, für eine komische Einlage als Frau verkleidet, ist Luciano, ein kleiner Fischverkäufer mit Entertainer-Ambitionen. Das Gehalt bessert er mit kleinen Betrügereien auf – bis er im Casting für Italiens Version von „Big Brother“ landet: Zusehends überzeugt davon, in geradezu religiösem Sinne auserwählt worden zu sein, verschleudert er buchstäblich seine Existenz, verteilt Hab und Gut auf der Straße und kriecht für ein Bittgespräch in den Lüftungsschacht einer Discotoilette, wo ein voriger Big-Brother-Star sein Geschäft verrichtet. Gegen Ende schleicht Luciano heimlich in die berühmten Cinecittà-Studios, wo nun TV-Shows gedreht werden und setzt sich im glücklichen Wahn auf eine leere Studiocouch.

„Reality“ von „Gomorrha“-Regisseur Matteo Garrone ist eine Revision von Luchino Viscontis Klassiker „Bellissima“ für die Berlusconi-Ära: Einst verlor sich Anna Magnani als arme Mama in hochfliegenden Träumen von der großen Kinoglitzerwelt, nun zerbricht ein armseliger Papa an der läppischen Reality-TV-Kultur. Als Mediensatire ist der Film etwas dünn, wiewohl pointiert als Porträt einer Nation, die zwischen der Macht zweier Imperien erstarrt ist – dem geschmacklos-grellen Fernsehzirkus Berlusconis und der traditionellen Kraft der Kirche. In der sukzessiven Verengung auf die verzerrte Perspektive der tragikomischen Hauptfigur fehlt „Reality“ surreale Kraft und die panoramische Breite von „Gomorrha“, der ebenso eine Gesellschaft im Würgegriff (der Mafia) zeigte. Dennoch ist Garrones Film einer der Favoriten der als eher enttäuschend empfundenen 65. Filmfestspiele von Cannes.


Spekulationen. Wobei die Spekulationen widerstreiten – wird sich der italienische Jurypräsident Nanni Moretti für seinen Landsmann starkmachen oder duldet dieser Egomane keine nationale Konkurrenz? Man weiß auch, dass Moretti kein Anhänger der beiden österreichischen Regisseure ist, die zwei der meistdiskutierten Bewerbsbeiträge abgeliefert haben: Ulrich Seidl reüssierte mit dem starken Sextouristinnen-Drama „Paradies: Liebe“, Michael Haneke gilt für „Amour“, ein reduziertes Kammerspiel vom Sterben im Alter, als Mitfavorit. Nicht nur wegen des Juryvorsitzenden sind solche Gerüchte vor der Preisvergabe Sonntagnacht etwas illusorisch: Als Abbild einer falschen Wirklichkeit ist „Reality“ wohl doch der definierende Film von Cannes. Auch das renommierteste Filmfestival der Welt, noch immer gerühmt als Nabel der globalen Kinokunst, ist längst Inbegriff einer Eventkultur, die den internationalen Filmfestivalzirkus dominiert: weniger artistische Leistungsschau denn Marktveranstaltung, mit einem Nouveau-Riche-Mäntelchen verkleidet. Oft scheinen künstlerische Leistungen nicht so entscheidend für die Selektion des Wettbewerbs wie die Interessen im Hintergrund agierender, mächtiger Kino-Weltvertriebe sowie die Renommee-Garantie einer Handvoll Respekt gebietender, aber das Gefühl des Immergleichen verbreitender Namen von internationalen Filmautoren.


Der Preis der Promotion. Der (paternalistische) Anspruch, mit dem Festivals wie Cannes, Venedig und Berlin einst gegründet wurden, ist nicht mehr haltbar: Von einer Selektion von gut 20 Wettbewerbsfilmen zu behaupten, es sei die Spitze des Weltkinos, war möglich in einer Zeit beschränkten internationalen Austauschs, limitierten Zugangs zu Filmen und überschaubarer Großereignisse – doch nicht mehr im vernetzten globalen Dorf mit seinem Überangebot an Laufbildern, Insiderinformationen und eiligen Sensationsmeldungen. Die Festivals verstehen sich selbst immer mehr als reine Publicity-Plattform. Starschauspieler werden im Viertelstundentakt an zehnköpfigen Journalistengruppen für „exklusive“ Interviews vorbeigehievt. Eine Mini-Pressekonferenz zum ausgebuhten US-Pulp-Drama „The Paperboy“ mit Nicole Kidman kostete über 600 Euro Anmeldegebühr: der Preis dafür, dann in den Medien Promotion für den Film machen zu dürfen. Den Großteil des Tages stehen Cannes-Berichterstatter in diversen Schlangen, tippen ein paar Zeilen zwischendurch in den Laptop – gerade recht für eine „Kultur“, die nach schnellen Twitter-Einschätzungen giert.

„Die Zeit gehört den Firmen“, heißt es auch in David Cronenbergs furioser Satire „Cosmopolis“, die zu Festivalende neben dem verrückten Episodenfilm „Holy Motors“ vom Franzosen Leos Carax nochmal Wind in einen stagnierenden Wettbewerb brachte. „Twilight“-Star Robert Pattinson dient Cronenberg in seiner Adaption von Don DeLillos Roman als ideales Model(l) des Bubble-Kapitalismus: Als Multimillionär-„Ulysses“ fährt er durch New York, draußen tobt Chaos. „Ein Gespenst geht um!“, schreien die Mitglieder eines absurden Rattenkults frei nach Marx, eine Reklametafel ergänzt: „Das Gespenst des Kapitalismus“. Pattinson sitzt als Börsenspekulant in seiner Parallelwelt: Die Limousine dient ihm als Büro, für den Sex, selbst als Klo, er lässt sich während Arbeitsgesprächen rektal untersuchen, durch die Scheiben sieht man „Occupy“-artigen Widerstand. Cronenbergs Freud-Jung-Film „A Dangerous Method“ untersuchte die Anfänge der Moderne, mit „Cosmopolis“ lässt er nun ein irritierendes (Zerr-)Spiegelbild der kapitalistischen Postmoderne folgen: Surreale Begegnungen verunsichern den Protagonisten, als er den Schutzraum verlässt, kippt der Film ganz in die Schräglage einer aus den Fugen geratenen Welt.

Viele Cannes-Filme erzählten von Rückzugsräumen, passend zum Internet-Biedermeier: Cronenberg, Haneke, Garrone oder der französische Altmeister Alain Resnais mit einer melancholisch-experimentellen Versuchsanordnung zu Theater, Film und Vergänglichkeit: In „You Ain't Seen Nothing Yet“ spielt sich ein Dutzend Schauspieler selbst, wie sie in diverse, teils gedoppelte Rollen aus Stücken von Jean Anouilh schlüpfen, in einem stilisierten unwirklichen Setting.


Wenig Wirklichkeit. Seidls Afrika-Ausflug war als Konfrontation mit der Wirklichkeit eine rare Ausnahme, eine andere der unterschätzte ägyptische Beitrag „After the Battle“ von Yousry Nasrallah, die im Arabischen Frühling begonnene, improvisierte, interventionistische Studie über die Unruhen am Tahrir-Platz und eine zerrissene Nation. Ein Großteil der Konkurrenz freilich behauptete Anspruch bloß – wie der US-Krimi „Killing Them Softly“, wo eine Killergeschichte um Brad Pitt mit ständigen Wirtschaftsnachrichten und Obama-Reden prätentiös zum Zeitbild aufgemascherlt wird.

Der artistische Rückzugsraum, den der Wettbewerb darstellen sollte, ist da kaum noch zu verteidigen, während es außerhalb der Konkurrenz viel erstaunlichere Visionen gab: Etwa Takashi Miikes Japan-Pop-Extravaganz „For Love's Sake“ und Anurag Kashyaps indisches Epos „Gangs of Wasseypur“, eine Art Bollywood-„Pate“, in dem ein seit Generationen währender Gangsterkrieg vom Wandel der Zeit und Kultur erzählte. Oder „11/25“, eine scharfe Studie zum selbstmörderischen Aufstand des Schriftstellers Yukio Mishima vom anarchistischen Veteran Kôji Wakamatsu. Sie endet mit einer erschütternden Geste leerer Hände: Ein Bild dafür, wie solche Filme aus Erwägungen von Markttauglichkeit und künstlerischen Klischees an den Rand gedrängt sind, während der Wettbewerb zusehends wackelt? Das Großfestival in seiner traditionellen Form ist ein Auslaufmodell in der uneingestandenen Krise. Kein Wunder, dass seine besten Filme auch von der Ungewissheit erzählten, was danach kommen wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.05.2012)

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