Michael Haneke und Ulrich Seidl: Polonaise in Richtung Cannes-Preis?

Erstmals waren zwei Österreicher im Cannes-Wettbewerb: Haneke und Seidl bestätigten souverän den Ruf des heimischen Autorenfilms in schwierigen Zeiten. Ein Doppelporträt.

Michael Haneke besuchte am Freitag voriger Woche die Cannes-Premiere von Ulrich Seidls Wettbewerbsfilm „Paradies: Liebe“. Zwei Tage später saß Seidl am Abend im Grand Théâtre Lumière bei der Galavorstellung von „Amour“, Hanekes Film in der heurigen Cannes-Konkurrenz. Statt dem Konkurrenzdenken, das in Österreichs Filmbranche häufig aufblitzt, demonstrierten die beiden bekanntesten Autorenfilmer des Landes nicht nur symbolische Einigkeit. Die zwei Regisseure sind die Spitzen der internationalen Renaissance der heimischen Filmkunst in den letzten beiden Dekaden. Jeder hat einen unverwechselbaren Stil entwickelt: Seidl eine prägnante Fusion aus dokumentarischen und fiktionalen Elementen, Haneke eine reduzierte Filmsprache nahe dem Geiste seines französischen Idols Robert Bresson. Sie haben das Austro-Kino auch ästhetisch entscheidend mitgeprägt.

Sowohl Haneke als auch Seidl haben sich trotz Anfeindungen in jahrelanger kompromissloser Arbeit als kontroverse Marken etabliert. Auch heuer waren die beiden Regisseure mit Filmen zu umstrittenen Themen an der Croisette: Seidl erzählte von einer Sextouristin in Kenia (hervorragend: Margarethe Tiesel) auf der Suche nach Liebe. Hanekes Kammerspiel schildert das Sterben im Alter: Die innige, bewährte Beziehung eines alten Ehepaars (ebenfalls erstaunlich: die Euro-Altstars Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva) wird auf die letzte Probe gestellt, als der unaufhaltsame körperliche und geistige Verfall der Frau beginnt.


Internationale Begeisterung. Dass beide Regisseure unabhängig von einem als eher mäßig empfundenen Wettbewerb reüssierten, erzählt von der starken künstlerischen Signatur, die sie ihren Arbeiten aufdrücken. Für Haneke ist es die sechste Cannes-Wettbewerbsteilnahme, seit er 1997 mit dem Antithriller „Funny Games“ den ersten großen Schub für den österreichischen Festivalerfolg leistete: Damals tobte der Saal angesichts des Gewaltschockers. „Da steppte der Bär!“, erinnerte sich Haneke 2009 am Vorabend seines ersten Cannes-Siegs mit „Das weiße Band“. Applaus sei schön, aber das Gefühl, wenn sich am Ende des Films Standing Ovations und heftige Buhs kreuzen, unübertrefflich.

Solche Reaktionen sind auch Seidl keineswegs fremd. Dass sowohl „Amour“ als auch „Paradies: Liebe“ praktisch nur mit Beifall aufgenommen wurden, muss aber nicht unbedingt enttäuschen: Dasselbe war auch bei Hanekes späterem Siegerfilm 2009 der Fall. Allerdings war die Aufnahme der beiden neuen Werke in den internationalen Medien dann doch recht unterschiedlich. Seidl, der seit seinem Langfilmdebüt „Good News“ 1990 erfolgreich auf allen großen Festivals vertreten war und heuer zum zweiten Mal nach „Import Export“ 2007 in der Cannes-Konkurrenz läuft, wurde wieder kontrovers debattiert. „Abscheulich und ein Meisterwerk zugleich“, war etwa in der Branchenbibel „Variety“ über „Paradies: Liebe“ zu lesen: In Seidls Film überschneiden sich Kolonialismus und Feminismus auf faszinierende und widersprüchliche Weise. Obwohl er in den (beschränkt ausgewählten) internationalen Kritikerspiegeln der Festival-Tageszeitungen nicht sehr weit vorne rangierte, traf der Film sichtlich einen Nerv. „In Cannes regieren die Österreicher“, hieß es etwa in der deutschen Zeitung „Die Welt“.


Haneke-Kritik an Kulturpolitik. Und Haneke erhielt für „Amour“ gleich die uneingeschränkteste Zustimmung seiner Karriere: Dass sein taktvoll verstörendes Todesdrama so gut aufgenommen wurde, hat zweifellos auch damit zu tun, dass er sich diesmal an einem allgemein zugänglichen individuellen Drama abarbeitet statt einen abstrakten Sozialkommentar in die typische Haneke-Form zu pressen. „Ich bin kein Spezialist für Gewalt. Ich arbeite mit Emotionen“, insistierte der Regisseur dann auch bei der Pressekonferenz: „Hanekes absolute Kontrolle zieht einen in den Film und bewegt, ohne dass man dabei gequält würde“, hieß es etwa im Branchenblatt „Screen“ in einer typisch enthusiastischen Kritik.

Kritik anderer Art konnte sich Haneke dann allerdings nicht verkneifen. „Peinlich“ fand er die Abwesenheit der heimischen Kulturministerin Claudia Schmied bei seiner Premiere, während die entsprechenden Vertreter von Deutschland und Frankreich zugegen gewesen seien: „Das ist nur schade für den österreichischen Film“, fügte Haneke an: „Da geben alle ihre Sprüche an die Presse und gratulieren, aber es passiert nicht viel – das ist leider so.“ Weiter ausführen wollte er das allerdings nicht: „Ich habe früher versucht, mich in die Filmpolitik einzumischen, aber jetzt kümmere ich mich um meine Filme. Das reicht.“ Schmied hat Haneke und Seidl inzwischen zu einem Empfang nach ihrer Rückkehr eingeladen, jedenfalls Haneke kann sich die Distanz zur österreichischen Kinopolitik aber ohnehin locker leisten. Sein Ausweg aus den Problemen mit den knappen Optionen der heimische Förderung war es, unmittelbar nach „Funny Games“ in Frankreich ein Standbein zu etablieren. Dank seines Rufs in der Grande Nation und unter Einsatz von französischen Schauspielstars wie Isabelle Huppert, die in „Amour“ wieder eine Nebenrolle spielt, hatte er Zugang zu anderen Budgets, um größere Projekte auf die Beine zu stellen. Auch der neue Film gehört zur langen Serie französischsprachiger und (mit minoritärer österreichischer Beteiligung) mehrheitlich französisch produzierter Haneke-Arbeiten, die beiden Ausnahmen waren sein Hollywood-Eigen-Remake „Funny Games U.S.“ und das hauptsächlich deutsch finanzierte Historiendrama „Das weiße Band“. Und wie dieses von Deutschland zu den Academy Awards geschickt wurde, könnte auch „Amour“ schon aus Reglement-Gründen nur von Frankreich für den Auslandsoscar eingereicht werden.

Seidl filmt mittlerweile vermehrt internationale Schauplätze wie Kenia in „Paradies: Liebe“, hat aber im Gegensatz zu Haneke weiterhin stärker mit den Zwängen der österreichischen Filmförderung zu kämpfen. Umso beeindruckender ist das neue Projekt als ein besonders riskantes und aufwendiges Unterfangen: Der Film ist Auftakt zur bereits abgedrehten „Paradies“-Trilogie, deren andere Teile (Zusatztitel: „Glaube“ und „Hoffnung“) im Lauf der weiteren Festivalsaison vorgestellt werden. Dass heuer zum ersten Mal gleich zwei heimische Filmemacher im Wettbewerb von Cannes liefen, ist augenscheinliche Bestätigung des Aufstiegs des heimischen Films. Freilich haben die Umstände auch wieder die alte Frage heraufbeschworen, ob außerordentlich talentierte Filmemacher wie Haneke und Seidl eher gegen als mit der Kulturpolitik in das Spitzenfeld des Weltkinos aufgestiegen sind.


Haneke tanzt auf Seidls Party. Die Frage ist nicht zuletzt virulent, weil aus diversen Förderstellen der Ruf nach kommerziellerer Ausrichtung zu kommen scheint – offenbar ganz im Sinne jenes Trivialkinos, gegen dessen Dominanz eigentlich die Förderung für künstlerisch ambitionierte, schwieriger zu finanzierende Kinoproduktionen überhaupt erst installiert wurde. Also ein Angleich an die österreichische Fernsehkultur, wo das Wort Bildungsauftrag nur noch eine hohle Phrase darzustellen scheint? Gerade Hanekes Werk wurzelt direkt in der bürgerlichen, kulturaffinen Fernsehspielkultur der 1970er und 1980er. Er wie Seidl könnten in Cannes mit Preisen für das Fortführen eines engagierten Filmemachens geehrt werden. Das wäre der wahre Grund zum Feiern. Auf der Party zu Seidls Film hätte es ein gutes Vorfreudebild dazu gegeben: Sogar Haneke wagte sich da auf der Tanzfläche in eine kleine Polonaise.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.05.2012)

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