Preisträgerbilanz. Nicht nur Regisseur Ulrich Seidl ging leer aus: Handelsübliches Arthouse-Kino siegte bei den 65. Filmfestspielen in Cannes.
Haneke im Glück, Seidl im Pech: Ein österreichischer Wettbewerbsteilnehmer erhielt zum zweiten Mal die Goldene Palme, der andere verließ Cannes zum zweiten Mal ohne Preis. Dabei war der heimische Regisseur Ulrich Seidl mit seiner starken Sextouristinnenstudie „Paradies: Liebe“ bis zuletzt im Rennen, wie sich nach der Preiszeremonie bei der Pressekonferenz der Jury zeigte. Präsident Nanni Moretti erzählte, dass drei Werke die Jury besonders gespaltet hatten: Seidls Arbeit, das episodische Kunststück „Holy Motors“ vom Franzosen Leos Carax, der (obwohl Mitfavorit) ebenfalls ohne Auszeichnung blieb, sowie der letztlich mit dem Regiepreis prämierte Bildertrip „Post tenebras lux“ des Mexikaners Carlos Reygadas.
Dass die einzige radikale Juryentscheidung ausgerechnet zugunsten dieser kunstgewerblichen Existenzialismus-Etüde ausgefallen ist, ist doch unglücklich: Reygadas ist der typische Fall eines Festivalregisseurs, der weniger durch persönliche Vision als durch imposante Epigonalität auffällt (ironischerweise scheint auch Seidl ein Einfluss). Seine lose verzahnten, mit prätentiöser Symbolik aufgeladenen Szenenfolgen um ein leidendes Mittelstandspaar erinnert an psychedelische Kinoexzesse der 1960er und 1970er, nur von zusätzlichem Kunstwillen beschwert.
Fader Exorzismus, milder Realitätsverlust
Auch überschattet war das rumänische Epos „Over the Hills“ von Cristian Mungiu, ausgezeichnet für das beste Drehbuch und seine zwei Hauptdarstellerinnen. Es ist das denkbar längste und langweiligste Exorzismusdrama, basierend auf dem wahren Fall einer tragischen Teufelsaustreibung im Hinterlandkloster. Im Kern ein typischer Trash-Reißer wie aus dem Euro-Horror der 1970er – bloß, dass die sensationellen Aspekte durch die Klischees des neuen rumänischen Kinos ersetzt worden sind: eine Fülle von banalen Details, die Realismus und Neutralität suggerieren sollen, aber nur gekünstelt wirken.
Ansonsten verschrieb sich die Jury dem Mainstream des gegenwärtigen Arthouse-Kinos: unangefochten im Fall des Hauptpreises für Michael Haneke, der sich den Ruf als Autorenkinomarke durch lange Kompromisslosigkeit hart erkämpft hatte. Diskutabel beim zweitwichtigsten Grand Prix für den Italiener Matteo Garrone und seine Satire „Reality“ über einen Fischverkäufer, der glaubt, für „Big Brother“ ausgewählt zu sein – und jede Bodenhaftung verliert: ein Zeitbild der Berlusconi-Ära, dem es allerdings in mancher Hinsicht an Schärfe mangelte. Garantiert nicht scharf war die Whiskey-Komödie „The Angel's Share“ für die der britische Regieveteran Ken Loach den Jurypreis erhielt. Und als besten Schauspieler würdigte man den Dänen Mads Mikkelsen, dessen Darstellung eines angeblichen Kinderschänders das einzig Bemerkenswerte an Thomas Vinterbergs wie ein TV-Krimi ablaufender Hysterieanklage „The Hunt“ war.
Bei aller verdienten Freude über Hanekes Sieg hinterließen die 65. Filmfestspiele Cannes einen bitteren Beigeschmack, verstärkt dadurch, dass die Jury die riskantesten Filme – neben Seidl und Carax vor allem David Cronenbergs furioses Zeitbild „Cosmopolis“ – übergangen hat. Die spürbare Enttäuschung über die Cannes-Ausgabe sollte zum Nachdenken darüber veranlassen, ob der Anspruch, die Spitze des Weltkinos zu repräsentieren, heute noch haltbar ist.