Anna Karenina stürzt dramatisch in die Kulisse

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Joe Wright versetzt Leo Tolstois epochalen Roman kühn ins Theater. Sein Werk ist stilvoll choreografiert, dieser Tanz auf dem Vulkan hat bei aller Künstlichkeit Niveau und auch Substanz. Ab Freitag im Kino.

Die ganze Welt ist Bühne. Diese Sentenz aus „As You Like It“ hat Joe Wright bei seiner opulent mit Stars besetzten Verfilmung von „Anna Karenina“ konsequent durchgezogen. Auf mehr als tausend Seiten hat Leo Tolstoi in seinem vollendeten Roman die ganze Welt des zaristischen Russland um 1870 dargestellt. Der Film des in der cineastischen Umsetzung von Literatur erfahrenen und erfolgreichen britischen Regisseurs Wright zwängt die unglückliche Familiengeschichte für 130 Minuten in ein altes Theater und erfasst aus dieser Perspektive erstaunlich viel von dem monumentalen Werk. Das liegt auch am Drehbuch von Tom Stoppard, der genial das Wesen dieses Romans erfasst hat.

Jeder im Festsaal hat seine Rolle zu spielen, wehe aber dem, der sich nicht an die Spielregeln hält. Dem kann nicht vergeben werden. Für den oder die gilt das Motto aus dem Alten Testament, das der strenge Graf Tolstoi seinem Buch vorangestellt hat: „Die Rache ist mein, ich will vergelten.“

Alles Walzer in Moskau und St.Petersburg

Die Gesellschaft rächt sich bitter an Anna Karenina, die von der bezaubernden Keira Knightley mit heiligem Ernst gespielt wird. Zuvor aber weidet sich die Elite in Moskau und Sankt Petersburg lustvoll an der Affäre dieser Schönen, die mit einer „ministeriellen Maschine“ (auch das kann Jude Law) verheiratet ist und nun ganz öffentlich vortanzt, dass sie ihre Gunst dem jungen Offizier Wronskij schenkt. (Aaron Taylor-Johnson stellt diesen Charakter als Geck dar.) Die Annäherung der Liebenden erfolgt tatsächlich im Walzerschritt, in origineller Choreografie, bei einem Ball, der eigentlich einer Jüngeren zur Einführung ins Leben der Erwachsenen dienen soll. Kitty (gespielt von der fantastischen Alicia Vikander), Schwägerin von Annas Bruder, einem Weiberhelden, schmachtet heftig nach Wronskij. Sie schlägt seinetwegen den Antrag des Land und Leute liebenden Sozialreformers Lewin (Domhnall Gleeson) aus, doch der begehrte Offizier hat nur Augen für Madame Karenina.

Was für ein Tanz wird da vollführt! Wronskij in Weiß, Anna ganz in Schwarz, verschränken ihre Blicke, ihre Arme und bald auch ihre Leiber. Sie schweben im Dreivierteltakt und werden dabei von der Kamera umkreist, als ginge es darum, ihr Innerstes zu enthüllen. Doch wir sehen ja nur Oberfläche, ein künstliches Paradies. Die oberen Zehntausend sind hier in einem alten Theater wie Schauspieler, die von Bediensteten herumgeschoben werden, oder wie Zuseher, die oft zur Charade erstarren. Wild fährt die Kamera durchs Parkett, über die Bühne, rauf zum Schnürboden, runter in die Eingeweide dieses Hauses. Nie ist ganz sicher, ob der Zug, der Anna nach Moskau bringt, eine echte Lok mit Anhängern ist, eine Attrappe oder gar die mit Kunstschnee bemalte Modelleisenbahn ihres Sohnes.

Mähen und Abstempeln als Männerballett

Der Film gleitet mehrfach ins Surreale ab, etwa wenn richtige Pferde in vollem Galopp über die Bühne donnern oder wenn sich die Kulisse öffnet und ein richtiger See zum Vorschein kommt. Aber das Mähen des Getreides in offener Landschaft ist nicht echt, sondern choreografiert, so wie die Arbeit der Beamten, die Akten wie ein artifizielles Ballett exakt im Rhythmus abstempeln.

Mit Fortdauer des Filmes allerdings ermüden diese Kunstgriffe. Wright ist ganz verliebt in seine Modellbauten. Sogar das Kondom, das Karenin zur Erfüllung der ehelichen Pflichten verwendet, ist in ein hübsches Kistchen verpackt, als wäre es ein miniatürliches Requisit für die nächste Mazurka. Man erwartet eigentlich, dass jetzt aus einem Spieldöschen ein paar Takte Tschaikowsky erklingen. Die ganze Welt ist ein Puppenhaus, und wenn sich Anna schließlich zwischen die Waggons auf die Schienen wirft, verunglückt diese Kunstfigur in einer Bahnhofskulisse. Das Tragische wird so sanft und gnadenlos in Ironie eingebettet.

Nach ihrem konsequenten Ende aber, im Nachspann sozusagen, gibt es noch ein großes Bild, das die Grenzen des Dramatischen sprengt. Wir befinden uns auf einer Wiese mit den spielenden Kindern, die diese Tragödie überlebt haben. Die Kamera fährt ein letztes Mal zurück, ins Parkett, doch die Wiese endet nicht an der Rampe. Natur überwuchert den ganzen Saal, diese künstliche Welt, der jene zum Opfer gefallen ist, die nicht akzeptieren wollte, dass man auf jeden Fall den Schein wahren muss.

Oft verfilmt und übersetzt

„Anna Karenina“ von Graf Leo N. Tolstoi erschien 1875–77 in der Zeitschrift „Russkij vestnik“, 1878 als Buch. Der Roman wurde seit 1910 mehrfach verfilmt. Greta Garbo spielte die Titelrolle zweimal: 1927 im Stummfilm und 1935 mit Ton. Weitere Annas: Vivien Leigh (1948), Tatjana Samoilowa (1967), Jacqueline Bisset (1985) und Sophie Marceau (1997). Rosemarie Tietzes neue Übersetzung von „Anna Karenina“ (Hanser 2009, dtv 2011) wurde in Kritiken hervorragend bewertet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.12.2012)

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