„Leviathan“: Ein Experiment aus dem Harvard-Labor

(c) Leviathan
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Der Dokumentarfilm ist ein Versuch, die physische Erfahrung der Arbeit auf einem Fischerboot direkt auf die Leinwand zu bringen.

Ein knappes Zitat aus dem Buch Hiob beschwört das mythische Seeungeheuer Leviathan. Dann wird der Zuseher ohne weitere Erklärung in die Elemente gestoßen: Erst sieht man nur Lichtflecken am Nachthimmel, dann fahren die entfesselten Kameras über Bord eines Schiffes, wo bei stürmischer See Fische in Massen an Deck gezogen und geschlachtet werden, tauchen unter die Wellen ab oder kreiseln mit Vogelschwärmen in der Luft. Die Bilder wirken oft abstrakt, dabei geht es paradoxerweise um die Vermittlung von konkreten physischen Sensationen: Mit „Leviathan“ versuchen die Regisseure Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor, die oft höllische Erfahrung des Alltags auf einem Fischerboot ganz direkt auf die Leinwand zu bringen.

Ihr Hintergrund ist anthropologisch: Im Sensory Ethnography Lab der Harvard-Universität arbeiten sie an der Neudefinition des ethnografischen Films – durch betont sinnlichen und künstlerischen Zugang. 2009 hatte Castaing-Taylor „Sweetgrass“ ko-inszeniert, eine ebenfalls kommentarlose Langzeitstudie über die letzten Schäfer in Montana und ihre Herden. Trotz des beruhigenden Anblicks von blökend dahinziehenden Schafen war das Resultat nicht nur idyllisch, das schwankende Inferno von „Leviathan“ wirkt nun vollends wie die dunkle Kehrseite des Ansatzes.

Ungeahnte Perspektiven dank Minikamera

Dank digitaler wasserfester GoPro-Miniaturkameras, wie sie Extremsportler gern auf den Helm schnallen, bietet der Film ungeahnte Perspektiven: Dutzende Kameras wurden quer über das Schiff und an den Monturen der Besatzung angebracht, das derart eingefangene Material wurde im Schnitt zur Sinfonie der erschöpfenden Dauerarbeit und der wilden Naturbilder montiert. Das Resultat soll überwältigen, hat manche Zuseher angeblich seekrank werden lassen: Verblüffend ist es jedenfalls.

Ein wenig überanstrengt kann man es mit der Zeit aber auch finden, wenn man die metaphysischen Anmutungen dieser Antithese zum üblichen Naturfilm nicht unbedingt schlucken will. Selbst dann sollte man aber die schöne Schlussszene würdigen können, in der ein ausgezehrter Seemann am Esstisch einschläft, während der Fernseher unbarmherzig weiterläuft. hub

Derzeit exklusiv im Wiener Gartenbau.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2013)

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