„Grandmaster“: Verlorene Zeit mit Zukunftsperspektive

Um die Biografie von Ip Man wird ein historisches Mosaik Chinas entworfen, das von der japanischen Invasion bis in die Fünfzigerjahre reicht.
Um die Biografie von Ip Man wird ein historisches Mosaik Chinas entworfen, das von der japanischen Invasion bis in die Fünfzigerjahre reicht.(c) Thim-Film
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Der Hongkong-Ausnahmeregisseur Wong Kar Wai legt mit „The Grandmaster“ – der unkonventionellen Biografie des gefeierten Kampfkünstlers Ip Man – seine beste Arbeit seit Jahrzehnten vor.

Vor einer Dekade war der Hongkong-Ausnahmeregisseur Wong Kar Wai die große Nummer des Gegenwartskinos: zugleich Pop und Avantgarde. Seine Liebesgeschichte „In the Mood for Love“ (2000) sorgte weltweit für Entzücken und landete im Vorjahr als einziges Werk aus der vergangenen Dekade neben David Lynchs „Mulholland Drive“ auf den vorderen Plätzen, als das renommierte britische Kinomagazin „Sight & Sound“ seine traditionelle Umfrage nach den besten Filmen abhielt.

Als Bildkünstler betörte Wong mit unvergleichlich luxuriösen Kompositionen, seine melancholischen Erzählungen von verflossenen Gefühlen und leidenschaftlichen Erinnerungen verströmten eine Qualität, die auch im Westen ankam: Kino-Proust, raffiniert gestaltet und doch haltlos emotional. Wong sprengte kühn die konventionelle Darstellung von Raum und Zeit, umschmeichelte zugleich mit musikalischen Gefühlswallungen, wie in „Chungking Express“, wo der Song „California Dreaming“ zum unwiderstehlichen Refrain wurde. Beim US-Vertrieb gab es prompt Unterstützung von Quentin Tarantino, dabei mangelte es Wong selbst nicht an Coolness: Sein Markenzeichen war die Sonnenbrille, die er nie abnahm. Die internationale Kritik stilisierte den Hongkong-Regiestar mit seinen schwelgerischen, kunstvollen Fantasien zur Galionsfigur einer neuen, womöglich weltweiten Kinowelle.

Für jahrelange Improvisation berüchtigt

Wongs flotte formale Innovationen von exquisit verschmierten Zeitlupen zu expressiv rasanten Schnittfolgen wurden auch gierig vom internationalen Kino aufgesaugt, doch der für jahrelange Improvisationsarbeit beim Dreh berüchtigte Regisseur verlor sich in seinen verträumten Parallelwelten: „2046“, die Fortsetzung zu „In the Mood for Love“, wurde als barocker Exzess abgetan, im US-Regiedebüt „My Blueberry Nights“ wurde der visuelle Genuss durch platte Americana-Klischees vergällt. Die Rezensenten zweifelten: Hatten zuvor Untertitel die Banalität von Wongs Werk verborgen?

Ähnliches hörte man heuer zur Berlinale-Eröffnung mit Wongs Martial-Arts-Film „The Grandmaster“, wieder ein Langzeitprojekt: Gewaltige, berauschende Bilder und beeindruckend stilisierte Kampfszenen wurden attestiert, aber die Geschichte würde hinter dem edlen Dekor verschwinden. Dabei ist Wongs unkonventionelle Biografie des gefeierten Kampfkünstlers Ip Man (verkörpert von seinem Stammdarsteller Tony Leung) sein bester Film seit Dekaden: natürlich wieder eine Beschwörung der verlorenen Zeit, aber mit Zukunftsperspektive.

Selbst seine atemberaubenden Martial-Arts-Einlagen arrangiert Wong hier nicht übersichtlich, sondern als tänzerische Fragmente: Der anfängliche Kampf im Regen ist aus Momentaufnahmen von Aktion und Reaktion zusammengesetzt – als würde sich der Held durch den Nebel der Zeit zurückerinnern. Doch das ist kein Versinken in melancholischer Nostalgie, aus der Erinnerung erwächst Inspiration. Der Ruhm von Ip Man verdankt sich seiner späteren Zeit als Lehrmeister des Wing-Chun-Stils, der dank seines Schülers Bruce Lee weltberühmt wurde.

Wong wieder zeigt sich als Student von Italo-Western-Genie Sergio Leone, der Soundtrack zitiert Themen von dessen Komponist Ennio Morricone. Wie in Leones „Es war einmal in Amerika“ wird um die Biografie von Ip Man ein historisches Mosaik entworfen, von der japanischen Invasion in China in den 1930ern bis in die Mitte der 1950er. Dann kam eine neue Ära durch die Große Hungersnot und die Kulturrevolution. Zuletzt gab es eine Reihe asiatischer Erfolgsfilme über Ip Man, doch allein Wong betont seine bourgeoise Herkunft: In vieler Hinsicht handelt „The Grandmaster“ mehr von seinen sozialen als den kämpferischen Fähigkeiten – sie garantieren sein Weiterkommen in einem Land im Umbruch, das schließlich zerbricht.

Neues aus den Ruinen der Tradition

Dass es ihm um ein Nationenbild geht, verrät Wongs Gestaltung des Films um die Zweiteilung in Norden und Süden Chinas: Die Regionen sind verschieden gefilmt – der Süden im Dauerregen, der Norden im Eis –, ihre verschiedenen Kampfstile die Triebfeder der Handlung. Ein alter Meister will beide Kampftraditionen fusionieren, Ip Man beeindruckt bei einer Demonstration – und wird dann von Gong Er (Zhang Ziyi), der Tochter des alten Meisters, gefordert. Ihre Auseinandersetzung ist wie eine Liebesszene, und wie alle Filme Wongs handelt auch „The Grandmaster“ von unmöglicher Liebe: Die einzigartige Kampfkunst von Gong Er wird in der zentralen und verblüffendsten Szene des Films bei einer Bahnsteig-Auseinandersetzung vor durchrasenden Zügen demonstriert – und von ihr dem Vergessen geopfert. Sie zieht sich zurück, um mit ihrer Epoche zu versinken, an der Opiumpfeife saugend wie einst Robert De Niro in „Es war einmal in Amerika“. Ip Man hingegen bewegt sich in die Zukunft, versucht aus den Ruinen der Tradition Neues zu schaffen – wie Wong durch seine Weiterverarbeitung von Sergio Leone. Trotz todtrauriger Schicksale ist „The Grandmaster“ ein erstaunliches Lebenszeichen, eine Wiedergeburt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2013)

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