"Boyhood": Das Leben und nichts anderes

"Boyhood"UPI
  • Drucken

Filmkritik. Richard Linklaters Langzeitprojekt "Boyhood" erzählt ein Erwachsenwerden in Echtzeit: ein so bewegender wie einzigartiger Spielfilm.

Was im Jahr 2002 als „The Untitled 12 Year Project“ begonnen wurde, erreicht am Donnerstag als „Boyhood“ die Kinos: Dieses Herzensprojekt von US-Regisseur Richard Linklater ist einzigartig – in der Konzeption wie in der beiläufig bewegenden Erfahrung, die es dem Zuseher bietet.

Über zwölf Jahre hinweg hat Linklater alljährlich mit denselben Hauptdarstellern ein paar Tage gefilmt (39 Drehtage insgesamt), um die Geschichte eines Erwachsenwerdens in Echtzeit abzubilden: Einer der verblüffendsten Effekte seines Films ist es, dem Hauptdarsteller Ellar Coltrane bei der Entwicklung zuzusehen – die „Boyhood“ des von ihm gespielten Mason ist auch die Veränderung vom vor der Kamera zunächst noch gar nicht so natürlich auftretenden sechsjährigen Buben zum selbstsicheren 18-jährigen Jüngling, der das Elternhaus schließlich Richtung College verlässt.


Langzeitwagnis. Vergleichbare Langzeitprojekte gab es im Kino fast nur in serieller Form, vor allem dokumentarisch: etwa die Saga um „Die Kinder von Golzow“, einer Schulklasse aus Brandenburg, die vom Regiepaar Barbara und Winfried Junge von 1961 bis 2007 (damit auch von der DDR ins vereinigte Deutschland) über 20 Filme hinweg begleitet wurde, sowie die britische „Up Series“, für deren erste Folge „Seven Up!“ (1964) 14 siebenjährige Kinder nach dem Kriterium ausgewählt wurden, einen sozialen und wirtschaftlichen Querschnitt der englischen Gesellschaft zu liefern. Alle sieben Jahre hat Regisseur Michael Apted seither ihren weiteren Lebensverlauf dokumentiert (zuletzt 2012 in „56 Up“), wobei manche zwischenzeitlich oder gar endgültig ausgestiegen sind.

Was ein Bild von Linklaters Wagnis mit „Boyhood“ vermittelt: Weder war garantiert, dass die Finanzierung bis zuletzt halten würde, noch, dass alle Mitwirkenden über den Zeitraum an Bord bleiben – vertragliche Zusicherungen beliefen sich auf maximal sieben Jahre. Zu den praktischen Schwierigkeiten, die es kurzerhand zu überwinden galt, gehörte etwa zu kaschieren, dass Darstellerin Patricia Arquette – als Mutter ein Herzstück des Films – in einem der Drehjahre hochschwanger war.

Die Gedanken an solche Hintergründe verschwinden beim Ansehen in Windeseile angesichts der selbstverständlichen Gelassenheit, mit der sich in „Boyhood“ die Langzeitmagie entfaltet: Der Anfang wirkt fast dokumentarisch. Als einer, der sich immer für unangestrengtes Beobachten interessiert hat, ist Linklater der ideale Regisseur für dieses Projekt, ebenso was die Zeichnung regionaler Milieus angeht, gerade seiner texanischen Heimat. So führt die an Umzügen reiche Kindheit Masons von Austin (wo Linklater lebt) durch Houston (wo Linklater geboren wurde) und ist mit vielen persönlichen Details angereichert – die Szene etwa, in der Mason einen Vogel wieder ausgräbt, den er vor wenigen Tagen begraben hat, um zu sehen, wie weit der Zerfallsprozess schon fortgeschritten ist, hat der Regisseur seinen eigenen Kindheitserinnerungen entnommen.


Mit(er)leben. In der fiktiven Langzeitbeobachtung kann Linklater schon auf bemerkenswerte Vorarbeit zurückgreifen: Seine gefeierte Trilogie „Before Sunrise“, „Before Sunset“ und „Before Midnight“ mit Julie Delpy und Ethan Hawke schilderte seit 1995 die Entwicklung einer Liebe in Neun-Jahres-Intervallen, die sowohl in Wirklichkeit wie in der Handlung vergangen waren. In der Mischung aus Autobiografie und Fiktion ist „Boyhood“ auch ein Verwandter des berühmten Filmzyklus um Antoine Doinel, den François Truffaut über 20 Jahre hinweg mit Schauspieler Jean-Pierre Léaud als sein Alter Ego gedreht hat – nur dass die Verdichtung auf einen einzigen, trotz fast drei Stunden Laufzeit eigentlich letztlich höchstens zu kurz wirkenden Film die Wirkung des Mit(er)lebens intensiviert.

So will man kaum Worte über die Handlung verlieren, die im Gegensatz zu üblichen Entwicklungsromanen nicht durch bedeutende Momente bestimmt ist, sondern durch den natürlichen Wandel der Zeit („Boyhood“ ist auch die unprätentiöse Antwort auf Terence Malicks „The Tree of Life“). Dazu setzt Linklater die Übergänge zwischen den Jahren möglichst unmerklich: Eben holen sich die Kinder in entsprechender Verkleidung den neuen „Harry Potter“-Roman, bald schon sind sie von anderen Popkultur-Artefakten besessen. (Natürlich reicht das über tagesaktuelle Moden hinaus: In erheiternden Szenen kommt es zu Vater-Sohn-Aussprachen über das Versagen von „Star Wars“ oder den rechten Beatles-Mix.)


Familienfilm. Die Hintergrundmusik du jour oder die politischen Debatten der Erwachsenen (Obama gegen Bush, der Bericht eines untypischen Irak-Kriegs-Heimkehrers) laden zur Zeitreise, während Mason die adoleszente Selbstfindung durchläuft – ein Welt- oder zumindest Nationenbild als Home Movie. Vor allem aber ein Familienfilm im eigentlichen Sinne: Es geht um Mason ebenso wie um seine zu Anfang schon getrennten Eltern, uneitel und großartig gespielt von Ethan Hawke und Patricia Arquette. Mama kämpft für die Zukunft der Kinder trotz Geldmangels und unglücklicher Partnerwahl (toll: Linklater-Veteran Marco Perella als Akademiker mit heimlichem Alkoholproblem), Papa ist ein liberaler Luftikus, der ausgerechnet im Schoß einer konservativen Familie endet.

Der eigentliche Zauber des Films liegt darin, aufrichtig den Fluss des Lebens einzufangen, als Serie von Szenen, deren Banalität oder Bedeutung eben erst im Rückblick klar sein wird. Im Moment regiert ein anderes Gefühl: „It's, like, always right now.“ Was das Kino im digitalen Wandel zu verlieren droht, demonstriert Linklater in „Boyhood“ auf wunderbarste Weise: Gut ein Jahrhundert lang war es das Medium für die Chronik der Wirklichkeit.

Zur person

Richard Linklaterwurde 1960 in Houston, Texas geboren. Er brach sein Studium ab, um sich in seiner Wahlheimat Austin mit diversen Gelegenheitsjobs (etwa auf einer Ölbohrinsel) eine eigene Produktionsfirma zu finanzieren.

Als Filmliebhaber war Linklater ein Autodidakt, sein Debüt gab er 1988 mit dem minimalistischen Super-8-Film „It's Impossible to Learn to Plow by Reading Books“, 1991 kam der Durchbruch mit dem Low-Budget-Erfolg „Slacker“.

Ungewöhnlich und abenteuerlustig ist Linklaters Karriere seither verlaufen, mit Projekten wie der Jugendstudie „Dazed and Confused“ (1993), der preisgekrönten, in Wien gestarteten Liebesfilmtrilogie „Before Sunrise“ (1995), „Before Sunset“ (2004), „Before Midnight“ (2013) oder experimentierfreudiger Animationsarbeit wie „A Scanner Darkly“ (2006) nach Philip K. Dick.

Neun Spielfilme hat Linklater allein neben seiner Arbeit an „Boyhood“ vollendet, für dieses Langzeitprojekt erhielt er heuer den Regiepreis bei der Berlinale.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.