Allahyari: „Sexualität im Alter ist ein Tabu“

Houchang Allahyari
Houchang Allahyari(c) Michaela Bruckberger
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Houchang Allahyari, Arzt, Psychiater, Filmregisseur, über Ruhestand, Alzheimer, Freud – und seine Liebe zur Musik: „Ich bin verrückt nach Maria Callas“, schwärmt er.

Die Presse: In Ihrem neuen Film „Der letzte Tanz“ steigt ein 25-jähriger Mann mit einer über 80-jährigen Frau ins Bett. Wie realistisch ist das?

Houchang Allahyari: Es ist möglich. Die Frau ist praktisch tot. Der Junge erweckt sie zum Leben, sie wird wieder wie eine 18-Jährige. Es gibt genug ältere Männer, die junge Frauen heiraten, besonders in orientalischen Gesellschaften. Da sagt niemand etwas. Aber wenn sich eine alte Dame in einen jungen Mann verliebt, ist es eine Katastrophe. Sexualität bei alten, kranken Leuten ist ein Tabu. Das finde ich falsch. Sie ist ein großes Thema, davon handelt mein Film.

Es geht darin auch um Fehldiagnosen von Alzheimer, psychischer Instabilität. Misstrauen Sie Ihrer Zunft, den Psychiatern?

Wenn man Kritik übt, sollte man bei sich selbst anfangen. Das geht auch uns Ärzte an. Ich finde, man sollte bei Diagnosen differenzierter vorgehen, als man das tut. Nicht jeder Mensch, der vergesslich ist, hat Alzheimer.

Sehen Sie Fortschritte in der Alzheimer-Forschung?

Auf jeden Fall. Meine Erfahrung ist, die Medikamente sind gut, man kann den Prozess stoppen. Heilbar ist das nicht. Mein Schwager forscht an der Universität von Pennsylvania über Alzheimer. Ich habe mit ihm gesprochen. Er sagte mir, wir brauchen noch 20 Jahre, bis wir genau wissen, was los ist.

Was hat die alte Dame im Film?

Sie ist depressiv. Ich habe ihre Geschichte absichtlich nicht so genau erzählt. Ich bin an die ärztliche Schweigepflicht gebunden.

Ist Ihnen je eine Fehldiagnose passiert?

Ich hoffe nicht. Ich bin da sehr vorsichtig. Menschen werden in unserer Gesellschaft zu leicht als Geisteskranke abgestempelt und haben dann ein Leben lang Schwierigkeiten. Ich mache keine Gerichtsgutachten. Ich glaube nicht, dass man Menschen in kurzer Zeit wirklich kennenlernen kann.

Sind Sie Analytiker?

Nein. Ich bin Psychiater und Neurologe. Ohne Freud kommt man zwar nicht aus. Aber: Ich traue mich das nicht laut zu sagen, weil mich die Freudianer umbringen werden, ich finde ihn sehr einseitig und veraltet. Die Kindheit wird überbewertet. 80 Prozent meiner Patienten sind arm. Es herrscht ein großer Druck in unserer Gesellschaft, weil das Geld so wichtig ist. Das wirkt sich stark auf die Psyche aus. Leute, die arm und arbeitslos sind, bekommen eben Panikattacken. Wissenschaftlich ist das natürlich nicht nachzuweisen.

Wie erleben Sie selbst das Alter?

Ich komme mir nicht alt vor. Ich bin in zweiter Ehe mit einer um 20 Jahre jüngeren Frau verheiratet und habe mit ihr eine 18-jährige Tochter. Meine älteren Kinder, sage ich immer scherzhaft, sind älter als ich. Im Ernst: Es steht fest, dass im Alter alles nicht mehr so funktioniert wie vorher, man hat Schmerzen, damit muss man manchmal leben. Aber Geist und Seele müssen nicht alt werden.

Sie stammen aus dem Iran. Werden dort alte Leute mehr geachtet als bei uns?

Das hängt mit der Großfamilie zusammen. In meiner Jugend haben ältere Damen hoch geachtet in unserem Haushalt gelebt. In der Gesellschaft hier haben Kinder oft absolut keine Zeit für die Alten, weil sie sich nicht kümmern können oder wollen.

Wer rastet, der rostet. Sich regen bringt Segen. Solche Sprüche signalisieren, dass man im Alter agil bleiben muss. Manche Menschen wollen ihre Ruhe. Müssen sie fürchten, Alzheimer zu bekommen?

Das würde ich nie behaupten. Das ist individuell verschieden. Es gibt Leute, die keinen Spaß an ihrer Arbeit hatten und froh sind, in Pension zu sein. Das ist legitim. Andere müssen sich sagen lassen: Geh weg, du bist zu alt. Das finde ich schrecklich. Ich hatte heute 50 Patienten. Aber ich mache das gern. Wenn Sie mir sagen, lass die Praxis weg und die Filme, ruh dich aus, dann sterbe ich.

In „Der letzte Tanz“ erklingt die Oper „La Wally“ von Alfredo Catalani über die Geierwally, ein Symbol für den Freiheitsdrang der alten Dame.

Musik ist sehr wichtig für mich. Nach Maria Callas bin ich ganz verrückt. Ich liebe „La Wally“, ich habe schon vor 30 Jahren zwei Kurzfilme darüber gemacht. Allerdings: Mich hat zunächst die Musik angezogen, erst später bin ich auf die Geschichte mit der Geierwally draufgekommen.

Was haben Sie für Pläne?

Ich mache einen Film nach Motiven von Pasolini, er wird „Villa“ heißen. Es geht um die oberen Zehntausend und einen Jungen, der die Beziehungen der Leute in dieser Villa total verändert. Ferner arbeite ich mit der Epo-Film an einer Komödie: „Praxis“ wird von einer psychiatrischen Praxis handeln und von einem Psychiater, der zu Hause mehr Chaos hat als in seiner Ordination.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.06.2014)

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