Neu im Kino: Multikulti-Mode in der Schule

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Laurent Cantets „Die Klasse“, Sieger in Cannes, ein konventioneller Spielfilm.

Österreich, so viel wird hier anfangs gleich klargestellt, „ist kein sehr wichtiges Land“. Denn es ist sehr klein. Wie also sollte es Pariser Schüler interessieren, die an den Werten einer Grande Nation, die vielleicht nicht ihre ist, zweifeln? Die Klasse, mit vielen Einwandererkindern, fordert ihren Lehrer schließlich schon heraus, weil er ihnen ein „weißes“ französisches Weltbild vermittelt. Warum verwendet er in seinen Beispielen immer Namen wie Guillaume – und nie welche wie Rachid? Ist bei den aufmüpfigen Teenagern mit Bildungsgut noch Staat zu machen? Etwas scheint doch hängen zu bleiben: Als Lehrer François nach einem berühmten Österreicher fragt, wird Mozart genannt.

Die sorgfältig kalibrierte Pendelbewegung von solchen rückversichernden Momenten zu zeitgemäßen Zweifeln am Bildungsideal hat Laurent Cantets Die Klasse zu einem der französischen Kinoerfolge des Vorjahres gemacht. Schon zur Cannes-Premiere erntete das Dokudrama über ein Schuljahr in Paris begeisterte Kritiken – und gewann prompt die Goldene Palme. Beim Kinostart daheim überrundete es in der Publikumsgunst wesentlich aufwendigere Konkurrenz.

Aber ist Cantets Film wirklich eine Ausnahmeerscheinung? Mitreißend ist das Lehrplan-Zeitbild vor allem für jene, die ihren letzten Schultag lang vergessen haben. Abgesehen vom multikulturellen Bonus, garniert mit liberalen Selbstzweifeln und Handkamera-Vérité, bietet es wenig Neues. Vielleicht liegt genau darin der Grund für den Erfolg von Die Klasse oder zuletzt auch der verwandten Filme des gebürtigen Tunesiers Abdellatif Kechiche. Multikulti ist in Mode: Noch vor ein paar Jahren wurde Bertrand Taverniers Es beginnt heute über einen Vorschullehrer, der für die Kinder arbeitsloser Nordfranzosen kämpft, kaum beachtet.

Die Missverständnisse beginnen schon beim Begriff Dokudrama: Der im Kern recht konventionelle Spielfilm wurde in Workshops erarbeitet. Der frühere Lehrer François Bégeaudeau, auf dessen autobiografischem Erfahrungsbericht das Drehbuch basiert und der sich quasi selbst spielt, sowie eine Gruppe Schüler improvisierten. Das sorgt für eine Spontaneität, die authentisch anmutet, unterstützt von einem Format à la Reality-TV, allerdings für die Breitwand aufgemascherlt: Das sichert eine Spur Kinogefühl sowie ein ständiges, meist amüsantes Tohuwabohu im größeren Bildrahmen.

Ist der Lehrer wirklich schwul?

Denn in der Klasse von François geht es geschwätzig und ereignisreich zu. Die Schüler wollen von ihm etwa wissen, wo heute noch ein Sinn in der Verwendung des notorisch schwierigen subjonctif imparfait sei – und außerdem: Ist Monsieur wirklich schwul? Das ist die zweigleisige Methode des Films: Fragen wie nach der seltenen Verbform demonstrieren den Unterschied zwischen Alltag und Tradition, führen zu Debatten, inwiefern Sprache die soziale Schicht widerspiegelt: prototypisch für die sozialen Anliegen von Cantet und Co, die sich sichtlich mühen, Probleme und Schuldgefühle einer postkolonialen Gesellschaft zu zeigen. Dass ihre Klasse ein Mikrokosmos sein soll, betont der Originaltitel Entre les murs („Zwischen den Mauern“). Doch anschließend kann der Lehrer beim entwaffnenden Umgang mit Fragen wie der nach seiner sexuellen Orientierung gleich wieder seinen Hochmut ironisch brechen (und symbolisch auch den des ganzen Systems): Das sorgt für eine tragikomische Dynamik, die der einschlägiger Hollywood-Filme gar nicht so fern ist.

Die Schülerin hat Plato gelesen

Cantet und sein Quasi-Star Bégaudeau, der zwar Bescheidenheit heuchelt, aber letztlich doch heldenhaft daherkommt, geben sich aufgeklärt: Der Pädagoge ist trotz aller vorsorglich unterstrichener Schwächen ein bewundernswerter Idealist, der Leben in die Ödnis des Klassenzimmers bringt. Das ist auch das Schema der Traumfabrikgeschichten von Saat der Gewalt bis Dangerous Minds, bloß verkompliziert auf eine Weise, in der romantische Verklärung des Bildungsideals und bourgeoise Herablassung gegenüber Minderheiten zusammenfinden.

So endet Die Klasse – wobei das letztliche Hereinbrechen linearer Dramatik den zuvor unterhaltsam umherschweifenden Film kurios schwächt – mit einem paradoxen Pyrrhussieg: Eine eskalierende Auseinandersetzung stellt Bégaudeau und seine diskursfreudigen Kollegen vor unlösbare Probleme, dabei wird dem engagierten Lehrer auch ein Verweis erteilt. Der Rückschlag verwandelt sich jedoch in einen Triumph, als sich zeigt, dass zufällig bei jener Schülerin, die am heftigsten gegen Bégaudeau opponierte, seine philosophische Saat wohl auf fruchtbaren Boden fiel: Sie hat Platos „Republik“ gelesen.

Das ist so gut, dass es ganz egal ist, dass sie daraus offensichtlich nichts gelernt hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.01.2009)

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