„Wild Tales“: Eine Hommage an die Eskalation

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„Wild Tales“ des argentinischen Regisseurs Damián Szifrón ist eine tiefschwarze Komödie über den Tropfen, der das Geduldsfass zum Überlaufen bringt.

Kann das Zufall sein? Eine junge Frau kommt im Flugzeug ins Gespräch mit einem Musikkritiker, es stellt sich heraus, dass dieser ihren Exfreund, einen klassischen Musiker, einst schwer verrissen hat. Eine Dame schaltet sich ins Gespräch ein, sie hat den gescheiterten Musiker unterrichtet. Ab da wird es surreal: Jeder in der Kabine scheint den Mann zu kennen, und keiner hat ihn in guter Erinnerung. Schließlich erkennen sie den Grund ihres Zusammentreffens: Der Mann ist Kabinenchef, hat sich im Cockpit eingeschlossen und ist wild entschlossen, die Maschine abstürzen zu lassen.

Die erste von sechs Episoden gibt in „Wild Tales“ mit dem beschreibenden Untertitel „Jeder dreht mal durch“ das Thema vor: Menschen, die vor Wut, aufgestauter Aggression oder im Rachewahn explodieren. Da wäre die Kellnerin, die ausgerechnet jenen Kredithai bedienen muss, der ihren Vater in den Selbstmord getrieben hat – in der Küche steht zufällig eine Packung Rattengift. Oder der Sprengmeister, dessen Auto wiederholt abgeschleppt wird. Oder die Braut, die auf ihrer Hochzeit herausfindet, dass ihr frisch angetrauter Mann sie mit einem der Gäste betrogen hat.

Der argentinische Regisseur Damián Szifrón inszeniert seine Geschichten, die ganz alltäglich beginnen und ins Absurde abdriften, erfrischend boshaft, rasant und mit bitterem Sarkasmus. Schnell wird klar: Hier kann alles passieren, wenn der Knopf erst einmal geplatzt ist. Er treibt seine Figuren an ihre Grenzen, lässt sie brodeln. Die meisten Menschen würden wohl irgendwann resignieren, nicht aber Szifróns Figuren: Er lässt sie erst in dem Moment vollkommen aufgehen, in dem sie jegliche Skrupel, jede Zurückhaltung und sämtliche Manieren abgelegt haben.

Wenn das Triebhafte überhand nimmt, wenn die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten ist, dann drosselt Szifrón erst das Tempo und untermalt die absolute Eskalation – etwa wenn sich zwei Männer, die sich wegen einer Lappalie zu streiten begonnen haben, in einem abgestürzten Auto mit Brecheisen und Feuerlöscher die Köpfe einschlagen – mit den lieblichstmöglichen Popklängen.

„Katharsis, Vergeltung und Zerstörung“

Szifrón wurde in Argentinien als Macher der Fernsehserie „Los Simuladores“ bekannt, in der eine Simulationsagentur für Geld die Probleme anderer Leute löst, indem sie mit Schauspielern Situationen inszeniert. „Wild Tales“ ist sein dritter Spielfilm. Er entstand eher zufällig: „Ich hatte zwei Jahre vergeblich versucht, einen Science-Fiction-Film auf die Beine zu stellen“, so Szifrón. Es wollte nicht so recht funktionieren, gegen die Frustration begann der Regisseur, Kurzgeschichten zu schreiben. Da erkannte er, dass seine Erzählungen etwas gemeinsam hatten: „In allen geht es um Katharsis, Vergeltung und Zerstörung. Und das nicht zu leugnende Vergnügen daran, die Kontrolle zu verlieren.“

Als Ko-Produzent konnte Damián Szifrón die spanische Firma El Deseo des renommierten Regisseurs Pedro Almodóvar gewinnen. Auf den Filmfestivals in Toronto, Cannes und San Sebastián wurde „Wild Tales“ bereits gefeiert, im Februar geht der Film für Argentinien ins Rennen um den Ausland-Oscar. Ginge es nach der Gunst des Publikums, hätte er schon gewonnen: „Wild Tales“ war in Argentinien der erfolgreichste Film des Jahren und spielte sogar mehr ein als „In ihren Augen“, der 2010 mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Dabei weist der Film unterschwellig auch auf die Missstände im Land hin: Korruption, soziale Ungerechtigkeit und die in der Gesellschaft aufkochende Wut darüber.

Als Nachgeschmack bleibt am Ende des Films aber doch der Spaß an der Eskalation. Mit tiefschwarzem Humor, Gewaltvergnügen wie in einem Tarantino-Film und dramatischen Wendungen als Hauptzutaten ist „Wild Tales“ eine Ode an die Zügellosigkeit. Und selten hat der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, so gut geschmeckt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2015)

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