Martin Luther King: Der Marsch ist nicht vorbei

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„Selma“ ist ein mitreißender, visuell beeindruckender Film über Martin Luther King und seine Bürgerrechtsbewegung, der so viel Pathos gar nicht gebraucht hätte.

Man will es kaum mitansehen: Auf einer Brücke außerhalb von Selma, Alabama, stehen hunderte Menschen, aufgereiht und tapfer nach vorne schauend, während sich ihnen gegenüber die Polizei bereit macht für einen Kampf, der als „Bloody Sunday“ in die Geschichte eingehen wird. Die Beamten, ausgestattet mit Schutzmasken und Baseballschlägern, die sie zuvor mit Stacheldraht umwickelt haben, geben den unbewaffneten Demonstranten zwei Minuten Zeit, sich zurückzuziehen. Danach wird der versuchte Protestmarsch brutal niedergeknüppelt, mit Prügel und Tränengas drängen weiße Männer die Hundertschaft von Schwarzen zurück. Wer schon auf dem Boden liegt, auf den wird mit unfassbarer Brutalität eingetreten.

Ava DuVernays Biopic „Selma“ erzählt als erster Hollywoodfilm die Geschichte von Martin Luther King und der Bürgerrechtsbewegung, die letztlich erreichte, dass das Wahlrecht für Afroamerikaner in den USA durchgesetzt wurde. Die Erzählung setzt im Jahr 1965 an, King (gespielt vom Briten David Oyelowo) ist da bereits ein geachteter Mann, der sich mit dem Präsidenten zum Tee trifft. Seine Rede „I have a dream“ ist weltbekannt, gerade erst hat er den Friedensnobelpreis erhalten – doch sein Ziel hat er nicht erreicht. Denn obwohl die Rassentrennung durch den Civil Rights Act offiziell abgeschafft wurde, wird Schwarzen vor allem in den Südstaaten der Gang zu den Wahlurnen verwehrt – etwa durch willkürliche, praktisch unbewältigbare Tests in Staatsbürgerschaftskunde.

King und seine Southern Christian Leadership Conference beschließen, ihre Bemühungen auf die Stadt Selma zu konzentrieren, wo nur 130 von 15.000 schwarzen Bürgern im Wahlregister stehen. Eine Serie von gewaltsam niedergeschlagenen Demonstrationen gipfelt schließlich in einem gerichtlich erlaubten Protestmarsch von Selma nach Montgomery, dem sich tausende auch weiße Menschen anschließen.

Debatte um historische Korrektheit

Die Regisseurin DuVernay, die mit „Selma“ ihren ersten Spielfilm mit großem Budget drehte, porträtiert King als entschlossenen Bürgerrechtler wie auch als charismatischen Privatmann, dessen Familienleben unter ständigen Drohungen leidet. Vor allem aber zeigt der Film seinen Kampf, der zunächst aussichtslos scheint, mit eindrucksvollen Bildern: Als etwa die Aktivistin Annie Lee Cooper (gespielt von Oprah Winfrey, die den Film mitproduzierte) zu Boden gestoßen wird, folgt die Kamera ihrem Körper, bis er auf dem Asphalt aufschlägt. DuVernay zeigt nicht nur die Hauptschauplätze der Handlung, sondern auch einen Reporter, der von einer Telefonzelle aus das Geschehen kommentiert, oder die entsetzten Gesichter derer, die die Proteste landesweit im Fernsehen verfolgen. Gewalt in Zeitlupe, Kameraflüge über euphorische Massen, untermalt mit Soul- und Gospelklängen – es sind bewegende Bilder. So viel Pathos wäre gar nicht notwendig gewesen, die Geschichte ist eindringlich genug.

Gedreht wurde an Originalschauplätzen, keine einzige Figur sei erfunden, so die Regisseurin. Immer wieder legen sich logbuchartige Einträge aus FBI-Überwachungsberichten über die Szenen. Sie vermitteln den Eindruck historischer Korrektheit – diese wird mitunter aber angezweifelt: Die „New York Times“-Kolumnistin Maureen Dowd schrieb, der Film verzerre die Rolle von Präsident Johnson, etwa wenn er höflich, aber bestimmt sagt, dass die Sache mit dem Wählen noch eine Weile warten müsse. Auch ein ehemaliger Mitarbeiter von Johnson kritisierte, dass dieser im Film als Verhinderer dargestellt wird – in Wahrheit hätte er den Marsch sogar initiiert. In einem Interview mit dem Sender PBS tat DuVernay die Frage nach der historischen Korrektheit ab: „Das ist Kunst. Das ist ein Film. Ich bin keine Historikerin.“ Sie habe nicht versucht, ein bestimmtes Image von King oder Johnson zu verbreiten, sondern möchte die Menschen einladen, den Geist der Bewegung zu spüren.

Es war nicht die einzige Debatte, die der Film angestoßen hat. „Selma“ ist zwar als bester Film und mit dem Song „Glory“ von John Legend ft. Common für den Oscar nominiert, die Regisseurin und Hauptdarsteller Oyelowo, der Kings Art zu sprechen perfekt verinnerlicht hat, wurden aber übergangen. Weil heuer alle nominierten Darsteller weiß sind, formierte sich auf Twitter unter dem Hashtag „#OscarsSoWhite“ eine Kampagne für mehr Diversität bei den Academy Awards. Damit wird der Film über eine politische Bewegung gewissermaßen selbst zum Politikum. Kings Marsch endete in Montgomery mit Siegesgefühlen. Zu Ende ist diese Geschichte aber auch 2015 nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2015)

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