„Verstehen Sie die Béliers?“: Dann singt sie eben in Gebärdensprache

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„Verstehen Sie die Béliers?“ erzählt von einer gehörlosen Familie – und einer Tochter, die singen kann.

Zwei Teenager stehen auf der Bühne des Schulsaals und nehmen einander an der Hand. Sie singen ein Duett, ein Chanson von Michel Sardou, voller Hingabe und Emotion. Ihr Lehrer begleitet am Klavier. Aber man hört nichts – nur ein sanftes Rauschen, wie ein Wind, der in weiter Ferne stark bläst. Die Eltern des singenden Mädchens blicken sich um, sehen die Begeisterung in den Augen der anderen Eltern, dann wieder ihre Tochter in ihrem kurzen Kleid, ihre Gestik, ihre Lippenbewegungen. Sie können nur anhand der Reaktionen des Publikums ahnen, wie sehr die Stimme ihrer Tochter bezaubert.

Fühlt es sich so an, gehörlos zu sein? Die Béliers sind keine normale Familie: Mutter, Vater und Sohn Quentin sind gehörlos, nur die Tochter Paula (Louane Emera) kann hören. Für ihre Familie ist sie das Tor zur Außenwelt: Sie übernimmt das Sprechen am Wochenmarkt, an dem die Bauernfamilie ihren Käse verkauft, sie telefoniert mit Kunden und Lieferanten, dolmetscht die Reden des Bürgermeisters im Fernsehen. Als sich ihr Vater vornimmt, selbst zur Bürgermeisterwahl anzutreten, ist er auf seine Tochter als Übersetzerin im Wahlkampf angewiesen. Und dann erkennt Paulas Musiklehrer ihr Talent und will sie nach Paris schicken – zum Gesangsstudium. In eine Welt, die ihren Eltern wohl immer verborgen bleiben wird.

Die Szene im Schulsaal ist der einzige Kniff, den sich Regisseur Éric Lartigau erlaubt, um die Welt der Gehörlosen zu veranschaulichen. Ansonsten geht es recht laut zu in der französischen Wohlfühlkomödie: Das Besteck klappert beim Essen nur so über die Teller, wird ein Sessel verrückt, scheint das ganze Haus zu vibrieren. Die Mutter stampft gern auf, um sich bei ihrer Tochter bemerkbar zu machen, der Vater macht ausgiebig von der Hupe seines Autos Gebrauch. Warum auch nicht? Wer nichts hört, braucht sich keine Mühe zu machen, leise zu sein.

Wie ein Gehörloser zu denken, mussten die Schauspieler erst lernen. Von Paulas kleinem Bruder (Luca Gelberg) abgesehen sind die Darsteller der Béliers durchwegs Hörende. Emera, die in Frankreich als Teilnehmerin der Castingshow „The Voice“ bekannt wurde, hatte wohl die größte Aufgabe zu meistern: Sie muss im Film mit ihren Eltern in Gebärdensprache, mit dem Rest der Welt gleichzeitig auf Französisch parlieren. Die heute 18-Jährige nahm ihre erste Schauspielrolle mit scheinbarer Leichtigkeit, sie wurde dafür mit einem César als beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet. Richtig überzeugend sind Karin Viard und François Damiens, die die Schrullen der Eltern auf köstliche Weise herauslassen – sei es ihre sexuelle Indiskretion oder die Vergnügtheit, wenn sie mit voll aufgedrehtem Bassverstärker im Auto herumbrausen.

„Wir erziehen sie wie eine Taube“

Natürlich bezieht der Film so manchen komischen Moment aus der ungewöhnlichen Familienkonstellation: chaotische Arztbesuche oder das stumme Grinsen der Eltern, als Paula ihren ersten Freund mit nach Hause bringt. Auf liebevolle Weise zeigt Lartigau die Konflikte, die sich in einer Familie zwischen Gehörlosen und Hörenden ergeben. Paula will ihre Kindheit auskosten, ist rebellisch wie jeder in ihrem Alter – hat aber gleichzeitig das Pflichtgefühl, sich um ihre Eltern kümmern zu müssen. Ihre Mutter hingegen hat die Sorgen und Ängste jeder Mutter: „Das arme Kind, allein in Paris!“ Dazu kommt, dass sie Hörende nie ausstehen konnte, wie sie gesteht. „Wir erziehen sie wie eine Taube“, hatten sich die Eltern bei Paulas Geburt vorgenommen. „Sie wird taub im Kopf sein.“

Dabei hören die Béliers einfach mit dem Herzen. Oder mit der Hand. In einer schönen Szene bittet der Vater seine Tochter, ihm vorzusingen, und hält dabei seine Hand an ihren Kehlkopf. Und nickt, wissend: Diese Stimme bezaubert wirklich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.03.2015)

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