„Das Märchen der Märchen“: Über die Narreteien der Royalen

(c) Filmladen
  • Drucken

Matteo Garrone stürzt sich mit „Das Märchen der Märchen“ ungestüm ins Fantastische und schwelgt in Geschichten von Drachenherzen und monströsen Flöhen.

So ein Märchen ist kein Kinderspiel. Es ist eine Minima Moralia, nicht zuletzt da alle Figuren, vom Guten bis zum Bösen, als Identifikationsfiguren taugen. Es ist ein schlaues Manöver des italienischen Regisseurs Matteo Garrone, dass sich „Das Märchen der Märchen“ abzuwenden scheint von jenem ausgeklügelten Naturalismus, der seine größten Erfolge „Gomorrha“ und „Reality“ geprägt hat. Nicht nur beweist er damit eine erstaunliche Beweglichkeit in seinem kreativen Schaffen, er ermöglicht auch neue Perspektiven auf sein bisheriges Werk.

Giambattista Basiles „Pentameron“, erschienen im 17. Jahrhundert, gilt als erste Märchensammlung überhaupt und hat Clemens Brentano und die Gebrüder Grimm beeinflusst. Die Ursuppe des Fantastischen gießt Garrone jetzt in ein bildschönes Triptychon an Geschichten, wobei die einzelnen Racconti nur beiläufig miteinander verknüpft werden. Es geht also nicht um das große Ganze, sondern um die Fülle an Ideen und Vorstellungskraft, die – wie bei klassischen Märchensammlungen – in jeder einzelnen Erzählung zur Geltung kommen. Im Mittelpunkt steht die Narretei der Royalen, ein fast schon systemkritischer Ansatz, nachdem Basile als Höfling mitunter selbst für das Vergnügen der Könige und Königinnen verantwortlich war: Nicht umsonst eröffnet Garrone sein „Märchen der Märchen“ mit einer Hofnarrenkompanie, die alles versucht, um den Regenten (John C. Reilly) und seine depressive Gattin (Salma Hayek) zu bespaßen. Aber erst, als ihr ein Nekromant einen zwar gefährlichen, aber Erfolg versprechenden Ausweg aus ihrer Kinderlosigkeit aufzeigt, kommt ihr ein Lächeln über die Lippen: Eine Jungfrau muss das Herz eines Wasserdrachens kochen, die Königin muss es verspeisen. Beide Frauen gebären sodann je einen Albino-Zwillingsbuben.

Realistische Grundierung

Die Tragödie, die sich darauf entspinnt, ist durchaus vergleichbar mit dem Elend, welches die Unachtsamkeit des zweiten Königs (Toby Jones) auslöst: Der einsame Mann pflegt einen Floh, der binnen Kurzem zu gewaltiger Größe heranwächst. Die monströse Kreatur haust in den königlichen Gemächern, und als sie stirbt, lässt das Herrchen ihm die Haut abziehen. Wer errät, von welchem Tier das gewonnene Leder stammt, soll seine schöne Tochter ehelichen dürfen.

Garrones Inszenierung der bisweilen auch ziemlich grauslichen Fantastereien ist nicht so traumverloren wie etwa bei Guillermo del Toro („Pan's Labyrinth“): Wo dieser sich komplett seinen Anderswelten und deren Gesetzmäßigkeiten überantwortet, behalten Garrones Märchen immer eine realistische Grundierung.

Das liegt auch daran, dass Matteo Garrone von der Malerei kommt und „Das Märchen der Märchen“ von den Arbeiten Goyas beeinflusst wurde. Ein weiterer Referenzpunkt war „Game of Thrones“: Tatsächlich muss man nicht nur hinsichtlich der ästhetisierten Brutalität – etwa wenn Hayeks Königin das Drachenherz verspeist –, sondern auch aufgrund der unmoralischen Begehren an die Erfolgsserie denken. Am klarsten treten diese Einflüsse in der dritten Geschichte zutage: Vincent Cassel spielt darin einen wollüstigen König, der gleich in seiner ersten Einstellung über ein Stillleben mit Dutzenden nackten Frauen steigt. Als er später den lieblichen Gesang einer vermuteten Schönheit hört, setzt er alles daran, diese ausfindig zu machen. Was er nicht weiß: Die Stimme gehört zu einer alten Färberin . . .

Man nimmt Matteo Garrone seine Faszination mit Basiles „Pentameron“ durchaus ab, kommt aber nicht umhin zu sehen, dass dies sein erster Ausflug ins Reich der Fantastik ist. Er übersetzt seine Bewunderung in eine berückende, aber zu gefällige Ästhetik und lässt alle drei Erzählungen recht kraftlos und wenig beeindruckend kulminieren. Trotz aller Schwächen muss „Das Märchen der Märchen“ gefeiert werden: Dass ein renommierter Autorenfilmer sich so ungestüm ins Fantastische stürzt, kommt selten vor. Dass in Europa ein genuin europäischer Märchenfilm produziert wird, noch viel seltener.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.08.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.