„45 Years“: Gletscherspalten unter dem flachen Land

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Der Brite Andrew Haigh hat für seinen bisher besten Film einen Besetzungscoup gelandet: Charlotte Rampling und Tom Courtenay spielen in „45 Years“ ein altes Ehepaar. Seine Sehnsucht nach jugendlichen Zeiten stellt sie auf die Probe.

Ganze 45 Jahre: So lang sind Kate und Geoff bereits verheiratet. Im lauschigen, wenngleich etwas tristen Flachland Norfolks hat sich das Ehepaar ein bescheidenes Ruhestandsrefugium eingerichtet, um ihre besten Jahre in trauter Zweisamkeit ausklingen zu lassen. Die Monotonie des Alltags und der Landschaft ist Balsam für ihre gesetzten Seelen, man kennt sich gut und braucht nicht viel zum Pensionistenglück: das gemeinsame Frühstück, hin und wieder ein Spaziergang mit Haushund Max.

Da flattert eine Botschaft aus dem Jenseits ins Haus, fast schon absurd in ihrer metaphorischen Deutlichkeit: Die Leiche einer alten Flamme aus Geoffs Jugendzeit, die 1962 bei einer gemeinsamen Europareise in eine Gletscherspalte gestürzt ist, ist gut erhalten wieder aus dem Eis aufgetaucht. Er soll in die Schweiz, um ihre Identität zu bestätigen. Langsam wird der alte Mann von dieser Nachricht infiziert und gerät in den Bann verhängnisvoller Nostalgie, die sich vorerst mit einem trügerischen Energieschub anmeldet: Abends fordert er Kate unvermittelt zum Tanz durch das Wohnzimmer auf, später sogar zu einer (erektil missglückten) Liebesnacht. Aber kurz darauf schlägt die Euphorie in ihr Gegenteil um. Geoff wird mürrisch und abweisend, Tag für Tag verliert er sich tiefer in seinem Gedächtnislabyrinth, und Kate beginnt, die Aufrichtigkeit ihrer langjährigen Beziehung infrage zu stellen.

Schauspiellegenden

Kann man einen geliebten Menschen jemals wirklich kennen? Wann wird ein Geheimnis zur Lebenslüge? Um diese Fragen kreist „45 Years“, der bisher beste Film von Andrew Haigh. 2011 machte der Brite mit dem unaufgeregten schwulen Liebesdrama „Weekend“ auf sich aufmerksam, für seine dritte Arbeit hat er einen Besetzungscoup gelandet: In den Hauptrollen brillieren die unnachahmliche Charlotte Rampling („Der Nachtportier“, „Swimming Pool“) und Tom Courtenay – in den Sechzigern einer der zentralen Filmdarsteller des britischen Sozialrealismus. Im Gespräch mit der „Presse“ bekundet Haigh seine Verwunderung über das unverhoffte Engagement: „Selbst nach dem Erfolg von ,Weekend‘ hätte ich nicht damit gerechnet, Schauspiellegenden dieses Kalibers begeistern zu können. Aber als das Casting näher rückte, hatte ich sie als Idealbesetzung im Kopf, und zu meiner großen Freude waren sie nicht abgeneigt.“

Der Fokus des subtil erzählten Films liegt auf Kate und ihren Zweifeln an der emotionalen Treue ihres Gatten. Ganz unglamourös in Wollpullover geschmiegt vermittelt Rampling mit fragenden Blicken und dezenten Gesten die Unsicherheit der Figur. Courtenay wechselt unterdessen mühelos zwischen Zärtlichkeit und Missmut, sein Spiel wirkt sehr frei. „Mein Script bildet die Basis, aber es ist mir egal, wenn jemand ein Wort ändert oder einen neuen Satz einwirft“, sagt Haigh. „Tom hat das hie und da gemacht, und während des Drehs ist es mir nicht einmal aufgefallen.“

Ungewöhnlich ist die Wahl Norfolks als Schauplatz: Ostenglische Felder sind keine offensichtliche Filmkulisse. „Ich mag diese Gegend sehr gern. Wohin man auch blickt, man sieht dort nur den Horizont – ein bisschen wie in Holland. Mir gefiel der Gedanke, die abenteuerliche Vergangenheit in den Schweizer Bergen anzusiedeln, mit ihren Gipfeln und Gletschern, und die Gegenwart in einem flachen Ödland. Das unterstreicht den Kontrast zwischen jugendlicher Leidenschaft und dem Gleichmut des Alters.“

Die Exfreundin spukt durchs Haus

Je mehr sich diese polaren Gemütslagen im Weg stehen, je stärker Geoffs Sehnsucht nach der verlorenen Zeit wird, desto unheimlicher wird „45 Years“. Besonders über die Tonspur schleicht sich sanftes Unbehagen ein. Haigh hat den Film immer als eine Art Geistergeschichte betrachtet: „Die Hauptfiguren leben in einem Haus, durch das Erinnerungen spuken. Geoffs verunglückte Exfreundin ist dort eine gespenstische Präsenz. Man spürt sie im Knarzen der Dielen, im unerklärlichen Rauschen des Alpenwindes auf dem Dachboden. Unsere Leben sind voller Gespenster – Erfahrungen, die uns niemals loslassen.“

Auch die Lieder, die das Paar anfangs für seine Jubiläumsfeier auswählt, erweisen sich als hintergründig. Die Platters-Ballade „Smoke Gets in Your Eyes“ zieht sich durch das ganze Narrativ. „Als ich das Drehbuch schrieb, lief der Song bei mir in Endlosschleife“, schwärmt Haigh. „Er ist wunderschön, aber der Text ist ziemlich düster. Ich war schon auf einer Hochzeit, wo er gespielt wurde, weil das Brautpaar ihn so romantisch fand, und dachte mir: Hört ihr eigentlich, was die da singen?“

„45 Years“ wurde im Übrigen auf Film gedreht. Der Grund war ein ästhetischer, obwohl Haigh anfangs durchaus seine Zweifel hatte: „Wenn man einmal digital gearbeitet hat, ist es befremdlich, wieder mit den alten Geräten zu hantieren. Die Monitore sind schrecklich, die Kameras laut. Aber es war uns wichtig, den Bildern eine zeitlose Qualität zu verleihen.“ Es ist ihm gelungen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2015)

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