„Dämonen und Wunder“: Flüchtlinge im gesetzlosen Paris

(c) Filmladen/ Paul Arnaud
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In „Dämonen und Wunder“ landen Flüchtlinge aus Sri Lanka in den Banlieues: Regisseur Jacques Audiard zeigt wieder Feingefühl fürs Grobe. Derzeit im Kino.

Jacques Audiards Cannes-Sieger „Dheepan“ (deutscher Verleihtitel: „Dämonen und Wunder“) beginnt mit einer Identitätsopferung: Ein Tamil-Tiger zieht die Krallen ein. Die Soldatenuniform des Guerillas landet auf dem Scheiterhaufen, direkt neben Leichen alter Kameraden. Genug vom zermürbenden Kampf, fort aus Sri Lanka – denn der 26-jährige Bürgerkrieg steht kurz vor seiner blutigen Beendigung durch eine gnadenlose Offensive der Nationalarmee. Um die Asylchancen aufzubessern, rekrutiert der Mann eine junge Frau und ein Waisenmädchen aus der gebeutelten Zivilbevölkerung: Als Zweckgemeinschaft übernehmen sie die Pässe einer ermordeten Familie und flüchten im Namen der Toten – Dheepan, Yalini und Illayaal – nach Frankreich.

Coup und Clou von Audiards preisgekröntem Flüchtlingsdrama liegen in seiner Konzeption und Besetzung: Es wurde überwiegend auf Tamil gedreht, nimmt konsequent die subjektive Perspektive seiner Protagonisten ein und vermeidet so narrative Bevormundung. Fremd sind nicht sie, sondern die europäische Gesellschaft, in die der Zuschauer an ihrer Seite eintritt. Eine Gesellschaft, die von Anfang an abweisend wirkt: Gleich nach der verzögerten Titeleinblendung folgen wir Dheepan bei seiner Tätigkeit als illegaler Straßenhändler, inklusive überstürzter Flucht vor der Polizei. Ein wohlgesinnter Dolmetscher verhilft der Patchworkfamilie zur Aufenthaltsbewilligung und Unterkunft im Pariser Vorort Le Pré, wo Dheepan einen Job als Hausmeister bekommt. Doch die Ruhe im Schatten verwahrloster Sozialbauten ist trügerisch: Auf den Dächern patrouillieren vermummte Bandenmitglieder, die Ahnung von Gewalt liegt in der Luft, als wäre es ein Western oder Vietnamkriegsfilm. Dass es nicht lang bei der bloßen Ahnung bleiben wird, ist klar.

Hauptdarsteller floh selbst nach Paris

Die Engführung von Genre und Sozialrealismus ist typisch für den 63-jährigen Autorenfilmer Audiard, der sich mit ruppigen Milieuthrillern wie „Ein Prophet“ profilieren konnte. In „Dheepan“ funktioniert die Fusion über weite Strecken ganz gut. Zum einen, weil sie sich aus den Erfahrungen des Hauptdarstellers speist: Der Autor und Aktivist Anthonythasan Jesuthasan, als Schauspieler weder Profi noch völliger Laie, war selbst bei den Befreiungstigern und floh in den Neunzigern über Thailand nach Paris. Seine eindringliche Performance zwischen Härte und Zerbrechlichkeit trägt den Film. Zum anderen, weil sich die Spannungselemente zunächst nicht aufdrängen und es eher darum geht, wie die gefälschte Familie trotz widriger Umstände zu einer echten wird.

Denn Audiards eigentliches Talent (und heimliches Schlüsselgenre) ist das maskuline Melodram: Mit einem Feingefühl fürs Grobe folgen seine Arbeiten meist sensiblen Machos, die nach psychischen und physischen Feuertaufen ihr verstecktes Potenzial erschließen – zur Liebe, zur Macht, oder zu beidem. Auch bei „Dheepan“ bildet dieses Motiv trotz brisanter Thematik den emotionalen Kern, wobei der Blick wie im letzten Film des Regisseurs („Der Geschmack von Rost und Knochen“) für die Perspektive der Frauenfigur geöffnet wird. Yalini (Kalieaswari Srinivasan) beginnt, als Pflegerin für den dementen Vater eines lokalen Gangsters zu arbeiten (toll: Vincent Rottiers), zu dem sie sich trotz ihrer Furcht hingezogen fühlt – nicht zuletzt, weil sich Dheepan schwer damit tut, seine Gefühle zu äußern. Aber als die Gewalt eskaliert, erwacht der schlummernde Krieger in ihm zu neuem Leben. Früh erfahren wir, dass er schon eine Familie verloren hat. Es soll kein zweites Mal passieren.

Die abrupte Steilkurve ins Rambo-artige Actionfinale ist heillos überzogen. Ebenso das utopische Schlussidyll, bei dem sich die Frage „Wunschtraum oder Wirklichkeit?“ vor allem stellt, weil so viel Kernfamilienkitsch andernfalls nur schwer erträglich wäre. Die Idee dahinter ist nachvollziehbar, sogar löblich: Ein Aufbrechen des Opferschemas mit den Mitteln der Fiktion, vergleichbar mit Quentin Tarantinos Rachefantasien „Inglourious Basterds“ und „Django Unchained“. Doch Audiard ist insgesamt zu sehr um ästhetische Authentizität bemüht, als dass die exaltierte Wendung überzeugen könnte.

Politisch bleibt „Dheepan“ ohnehin ambivalent: Er bedient konservative Klischees, aber macht Flüchtlinge zu Identifikationsfiguren. Er ist sozialkritisch, aber seine Sozialkritik richtet sich gegen die Parallelwelt der Banlieues, denen er bürgerkriegsähnliche Zustände totaler Gesetzlosigkeit attestiert, ohne wirklich nach den Ursachen zu fragen. Als Diskursbeitrag zur europäischen Gegenwart sollte man ihn nicht missverstehen, obwohl er in Deutschland bereits an Schulen zum Einsatz kommt – die Geschichte ist zu spezifisch, und spielt überdies 2009 (was nie explizit ausgewiesen wird). Vielleicht sollte man einfach den deutschen Verleihtitel, der sich auf ein Gedicht von Jacques Prévert bezieht, beim Wort nehmen: ein Film über Dämonen und Wunder, das ist letztlich interessanter als ein Themenfilm.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2015)

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