„Mr. Holmes“: Die Gedächtnislücken des Meisterdetektivs

Ian McKellen als Sherlock Holmes.
Ian McKellen als Sherlock Holmes.(c) Thimfilm
  • Drucken

Bill Condons Film präsentiert uns den brillanten Ermittler als alten Mann, der seine eigenen Grenzen kennenlernen muss: Sherlock Holmes, von Ian McKellen mit Gentlemanwürde und trockenem Humor gespielt, widmet sich einem Fall, der ihm seit Jahrzehnten keine Ruhe lässt.

Wer ist Sherlock Holmes in Wirklichkeit? Birgt sein rationales Wesen einen emotionalen Kern? Dass uns Arthur Conan Doyles Meisterdetektiv so anhaltend fasziniert, verdankt sich nicht zuletzt diesem Mysterium seiner Persönlichkeit, und jede Interpretation der Figur hat eine andere Antwort parat. Die kultige BBC-Serie „Sherlock“ etwa zeichnet ihren Titelhelden als „hochfunktionalen Soziopathen“ an der Grenze zur totalen Empathielosigkeit. Bill Condon wählt in „Mr. Holmes“, einer Kinoadaption von Mitch Cullins‘ Roman „A Slight Trick of the Mind“, den gegenteiligen Weg: Er konfrontiert den brillanten Ermittler mit seiner Menschlichkeit. Und da kaum etwas menschlicher anmutet als das hohe Alter mit seinen Gebrechen und Obsessionen, ist Mister Holmes in diesem Film ein Greis.

Am Ruhestandsszenario, das Doyle in der Erzählung „His Last Bow“ kreiert hat, hat sich im Jahr 1947 nicht viel geändert: Nach wie vor lebt Holmes zurückgezogen auf seinem Landsitz in Sussex und widmet sich der Bienenzucht. Neu sind nur die Haushälterin, Mrs. Munro (streng und stark: Laura Linney), und ihr elfjähriger Sohn, Roger (Milo Parker). Dieser hat sämtliche Werke des längst verstorbenen Dr. Watson verschlungen; voller Ehrfurcht blickt er zum kauzigen Alten auf. Edelmime Ian McKellen, der in Condons „Gods & Monsters“ eine sehr ähnliche Rolle innegehabt hat, verkörpert den Detektiv mit Gentlemanwürde und trockenem Humor, trotz wankenden Gangs und Altersflecken auf der Pergamenthaut. Es ist eine „realistische“ Holmes-Inkarnation mit Zylinderhut statt Deerstalker-Jagdmütze, die ihr literarisches Alter Ego als Zuspitzung belächelt, ohne deren Scharfsinn vermissen zu lassen. Doch selbst ein Superhirn ist nicht vor Senilität gefeit. Es mehren sich Anzeichen von Gedächtnisschwund, weshalb sich Holmes auf eine Spurensuche nach der verlorenen Zeit begibt – zwecks Niederschrift eines Falls, der seit Jahrzehnten an seiner Seele nagt.

Rückblenden über Rückblenden

Einen Deduktionskrimi à la Doyle braucht man sich dennoch nicht erwarten, in erster Linie ist „Mr. Holmes“ ein geschmackvoll fotografiertes, gediegenes Arthaus-Drama mit den Leitthemen Alter, Vergessen und Erinnerung. Bemerkenswert ist die Beiläufigkeit, mit der die Filmemacher eine komplexe, verschachtelte Erzählstruktur auffächern. Über mehrere, in der Art Proust'scher Madeleine-Momente inszenierte Rückblenden (sowie Rückblenden innerhalb dieser Rückblenden) spaltet sich die Erzählung schon sehr früh in drei Zeitebenen auf. Die aktuellste von ihnen verfolgt die keimende Beziehung zwischen Holmes und dem aufgeweckten Roger, der die Lebensgeister des alten Mannes weckt. Eine zweite widmet sich Holmes' Reise ins Nachkriegsjapan, wo die Trümmerfelder Hiroshimas dem Rationalismus des Detektivs zum Hohn gereichen. Der dritte, früheste Erzählstrang – dramaturgisch Doyles Geschichten noch am nächsten – dekuvriert den schicksalhaften Fall (um eine Frau und ihre Glasharmonika), dessen Ausgang Holmes keine Ruhe lässt.

Einsicht in die eigene Fehlbarkeit

Alle drei münden in denselben Erkenntnissen: Die Welt ist kein Uhrwerk, letztlich hat nicht einmal ein Meisterdetektiv den totalen Durchblick, und manchmal sind gut erdachte (Lügen-)Geschichten angebrachter als bittere Wahrheiten. Holmes' schwierigster Fall, so impliziert der Film, ist das Leben selbst. Die Gedächtnistouren seines Lebensabends lehren ihn spät, aber doch, mit Verlust umzugehen und sich seine eigene Fehlbarkeit einzugestehen. Leider fehlt „Mr. Holmes“ der Mut, sich dem Gedanken der Unabgeschlossenheit wirklich zu stellen, das verklärte Happy End des Drehbuchs weicht von der Vorlage ab. So bleibt es vor allem McKellens Performance, die den Film sehenswert macht. „Was passiert mit Ihren Bienen, wenn Sie sterben?“, fragt Roger an einer Stelle. Holmes' rührende Antwort, vorgetragen mit Achselzucken und glasigem Blick: „Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Man kann nicht alles lösen!“ Fast ein wenig schade, dass der Film es dennoch tut.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.