„Little Girl Blue“: Die Schreie der Janis Joplin

(C) Universal Studios
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Die Dokumentation „Janis: Little Girl Blue“ zeigt die große, früh gestorbene Sängerin. Und sie zeigt, wie fremd uns die Intensität ihres Gefühlsausdrucks geworden ist.

Ist 69 das neue 27?“, so kommentierte einer im Internet die Nachricht, dass kurz nach David Bowie auch Alan Rickman 69-jährig gestorben war. Der bittere Witz ist offenkundig: Bei einem 69-Jährigen kann man von einem erfüllten Leben sprechen; wenn ein Künstler mit 27 stirbt, wird man das eher verfrüht nennen. Oder euphemistisch den Titel eines Country-Songs aus dem Jahr 1955 zitieren: „Live Fast, Love Hard, Die Young“. Janis Joplin wurde dieses Motto genauso zugesprochen wie Jimi Hendrix, Brian Jones, Jim Morrison und – über zwei Jahrzehnte nach der Todesserie der Hippiegeneration – Kurt Cobain. Sie alle starben mit 27.

Wieder 17 Jahre später, 2011, holte man das Zitat abermals aus dem Geflügelte-Worte-Büchlein: Amy Winehouse war gestorben, an einer Alkoholvergiftung, im Alter von 27 Jahren. Der im Juli 2015 – kurz nach „Montage of Heck“, einer ganz ähnlich gestrickten Filmbiografie über Kurt Cobain – in den Kinos angelaufene Dokumentarfilm „Amy“ zeichnete diesen Tod als Konsequenz eines „Lebens in einem schrecklichen Goldfischglas“, wie es einmal in diesem Film heißt, der alles Schwarz in Schwarz malte, auch das schnelle Leben und die harte Liebe.

Seltsam, dass kaum jemandem damals ein Vergleich mit Janis Joplin einfiel. Er läge nahe: Auch sie nährte ihre Musik von schwarzen Vorbildern, haderte mit ihrem Äußeren, wurde von Männern enttäuscht, verfiel dem Alkohol und dem Heroin.

Und doch: Wie fern sie uns ist! Wie fremd uns die Ekstase geworden ist, in die sie ihr Blues führte! An einer Stelle des Films erklärt Janis Joplin einem TV-Moderator die – heute von allen Buchhaltern gedroschene, damals ganz frische – Metapher vom Feedback, von der Rückkoppelung mit dem Publikum, durch die alles „higher and higher“ werde. Davor hat sie „Summertime“ gesungen, den Satz „And the cotton is high“ geschrien, als ob nicht nur die Baumwolle, sondern ihre ganze Welt emporschießen, explodieren müsse.

Zu Bob Dylan: „I'm gonna be famous!“

Gewiss, „high“, z. B. auch von den Doors („Light My Fire“) und den Byrds („Eight Miles High“) an prominenter Stelle verwendet, war ein Modewort damals, sicher, es enthielt die Assoziation mit Drogen, aber es enthielt mehr: die Sehnsucht nach mehr nämlich, die Gewissheit, dass es mehr gibt, dass es weiter und weiter geht, fast egal, was. „The world was changing“, sagt Janis Joplins Schwester, auch dieses Wort lag in der Luft, und in Wahrheit war auch der tiefste persönliche Schmerz vom Grundgefühl unterlegt, dass es eine Änderung zum Besseren ist. Als Janis Joplin noch ganz unbekannt war, rief sie Bob Dylan zu: „I'm gonna be famous!“ Er antwortete ihr: „Yeah, we all gonna be famous.“ Und sie schrieb den Eltern nach Hause: „Sorgt euch nicht, es wird schon.“

Ein Aufbruch also. In ihrem Fall zunächst aus Port Arthur, Texas, nach Los Angeles, Kalifornien, aus der Provinz ins Zentrum der Hipness. Wo die Hipster übrigens ganz ähnlich aussahen wie heute (wieder) in der ganzen (westlichen) Welt: bärtig vor allem. Und jung, wunderbar jung. Wie alt die Weggefährten Janis Joplins geworden sind, macht einen seltsamen Reiz dieser soliden Dokumentation aus, man ertappt sich bei dem Gedanken: Zehn Jahre später, und man hätte den einen oder die andere nicht mehr vor die Kamera bekommen . . .

Tränen und keine Schminke

Sie sei „one of these loud Texan women“ gewesen, sagt ein Mitmusiker über Janis Joplin. Tatsächlich, sie war laut, ungehobelt, ungestüm. Geradezu unangenehm. Sie kreischte. Ihre Schreie wirken freilich heute, in dieser braven, stillen, späten Ära des Pop, noch lauter: Sie möge sich mäßigen, würden ihr heutige Produzenten sagen (bevor sie mit Autotune eingreifen), und übrigens: Wieso ist denn dieses Mädchen nicht geschminkt? Gerade im Vergleich zu Winehouse – deren Make-up freilich schon etwas Parodistisches hatte – fällt auf, dass Joplin praktisch nie Lippenstift oder Lidschatten trug. Zumindest die Zwänge zur Kosmetik waren damals geringer.

Dazu kommt: Keine Schminke hätte diese Mimik überstanden, diesen jähen Ausdruck jäher Gefühle. Nicht die Grimasse, in die „Piece of My Heart“ ihr Gesicht riss. Schon gar nicht die Tränen, die ihr beim Monterey-Festival bei den verzweifelten Liebesschwüren von „Ball And Chain“ in die Augen schossen. „Cry Baby“ sowieso nicht.

„She definitely felt the blues“, sagt mit einigem Understatement ein Kollege von Big Brother And The Holding Company, der Band, die Janis Joplin Ende 1968 verließ, weil sie . . . Genau: weil sie weiter wollte. Es wäre anmaßend, fast ein halbes Jahrhundert danach Gründe für ihren Absturz und frühen Tod abzuwägen, einer scheint plausibel: die Trennung von der Band, der Verzicht auf die Wärme dieser zweiten Familie. Das konnte ihr keine bewundernde Masse ersetzen, auch nicht jene in Woodstock. „You got a place to sleep and everything?“, fragte Janis Joplin dort fast mütterlich. Und dann schrie sie.

„Janis: Little Girl Blue“ wurde von der kalifornischen Dokumentarfilmerin Amy Berg gedreht, der Film enthält einiges neues Bildmaterial (teilweise von D. A. Pennebaker), Popsängerin Cat Power liest aus Briefen Janis Joplins an ihre Eltern. In Wien läuft der Film im Votivkino.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.01.2016)

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