Anne Frank: Der Horror zeigt sich im Alltag

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Hans Steinbichler hat das Tagebuch der Anne Frank verfilmt. Es ist die erste deutsche Kinoproduktion zu diesem Stoff. Die große Stärke: Szenen aus dem Leben der Familie im Versteck. Die große Schwäche ist der Schluss.

Fangen spielende Kinder. Blühende Wiesen. Eine Berglandschaft wie bei „Heidi“ und eine Großmutter, die einem alten Bilderbuch entsprungen zu sein scheint. „Ach“, ruft die betagte Dame fröhlich, „mein Quecksilber!“ Und dann drückt sie das Mädchen, das da fröhlich angehopst kommt, herzlich an ihre Brust.

Das „Quecksilber“ ist Anne Frank. Und dass wir sie so ausgelassen bei ihren Verwandten in der Schweiz erleben, wo sie Urlaub macht und sich den Sommerwind um die Nase wehen lässt, soll uns wohl vor Augen führen, was für ein Leben sie hätte führen können, wenn denn der Vater sich hätte überreden lassen, Amsterdam rechtzeitig zu verlassen und in die Schweiz zu ziehen: so unbeschwert! Sie hätte alt werden können dort, vielleicht selbst eine Großmutter, die ihr Enkerl herzt, statt im Alter von fünfzehn Jahren in Bergen-Belsen ermordet zu werden.

Der Vater auf dem Podest

Dass er uns mit Kitsch begrüßt, ist der erste und keineswegs letzte Fehler dieses Films, der aber zumindest einiges richtig macht. Am wichtigsten: Er lässt Anne Frank ausgiebig zu Wort kommen, beziehungsweise ihr Tagebuch. Von 12. Juni 1942 bis 1. August 1944 hat sie es geschrieben, und in der vorliegenden Fassung ist es weit mehr als die private, peinlich gehütete Beichte eines Teenagers: Spätestens ab Frühjahr 1944 hat Anne Frank selbst es zur Veröffentlichung vorgesehen, sie hat es entsprechend bearbeitet, die Bewohner des Verstecks in der Prinsengracht anonymisiert und auch schon einen Titel für ihr Werk gefunden: „Das Hinterhaus“.

Es ist eine Pflichtlektüre für Jugendliche, nein: für jeden, gerade deshalb, weil Anne Frank nicht nur von der Angst schreibt, die Nazis könnten sie in ihrem Versteck entdecken, weil sie nicht nur Entbehrungen thematisiert, die Beengtheit im nur durch eine versteckte Türe zugänglichen Hinterhaus, in das bald eine weitere Familie einzog, nicht nur den Horror der Bombennächte, die sie ohne Schutz verbrachten. Sie erzählt auch von gewöhnlichen Teenagernöten – die wohl verschärft wurden durch Enge im Haus und die ständige Bedrohung, die aber dennoch eines sind: für viele Jugendliche nachvollziehbar. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper etwa, der als hässlich erlebt wird. Die Entfremdung von der Mutter. Der Vater (von Ulrich Noethen gespielt) wird auf ein Podest gehoben und wieder hinuntergestoßen. Und dann gibt es noch: die erste Liebe im Hinterhaus, die so überwältigend ist wie die erste Liebe draußen.

All dem folgt der Film durchaus behutsam: In einer Szene sitzt etwa die Mutter (Martina Gedeck) auf dem Boden und sortiert den Abfall, weil das Töchterl das Papier einfach in den Hausmüll geschmissen hat und nicht verstehen will, dass auch die paar einzelnen Seiten gut sind, um Feuer zu machen. Verhärmt wirkt sie, die Mutter, zu entmutigt und schwach, um sich gegen ihre Tochter durchzusetzen, die für diese Kraftlosigkeit vor allem Verachtung übrig hat: Kann die Mutter denn nicht stark sein?

Es ist bemängelt worden, der Film sei zu harmlos, weil er im Alltag verharre. Aber darin liegt ja der allergrößte Horror, gerade dann, wenn wir unser eigenes Leben wiedererkennen, die Grenze zwischen „uns“ und den „anderen“ niedergerissen wird, sind wir am aufnahmebereitesten: So berührte wohl auch kein Dokumentarfilm über Syrien mehr als „Die Kinder von Aleppo“, der Geschwister zeigte, die in ausgebombten Häusern nach Spielzeug suchten und dabei kurz den Krieg vergaßen.

Ob der Alltagsszenen, dieser vorsichtigen Annäherung an ein Heranwachsen im Terror, die auch gelingt, weil Lea van Acken so frei und überzeugend spielt, möchte man fast entschuldigen, dass der Film zuweilen unerträglich bedeutungsschwanger daherkommt: Das beginnt bei der dräuenden Musik, setzt sich fort beim Wetter, das allerlei symbolische Aufgaben übernehmen muss – und dann lässt es sich der Regisseur auch nicht nehmen, das Bangen der 13-Jährigen zur Prophetie aufzublasen.

Vor allem aber: Da er sich doch so eng ans Tagebuch hält, hätte der Film Hans Steinbichlers mit ihm enden sollen. Denn „Das Hinterhaus“ ist, auch wenn wir um den schrecklichen Tod von Anne Frank, ihrer Mutter und ihrer Schwester wissen, ein Dokument der Hoffnung, geschrieben für die Zeit danach. Stattdessen setzt der Film – durchaus unangemessen – opulent in Szene, wie den Mädchen im KZ die Haare geschoren werden. Das nächste Mal bitte weniger, und auch weniger Pathos: Wie das geht, hat Anne Frank vorgemacht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.03.2016)

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