„Raum“: Eine Welt zwischen vier Wänden

 Für Jack – sehr natürlich gespielt von Jacob Tremblay – gibt es kein Draußen, nach dem er sich sehnen könnte, für ihn kommt alles Äußere aus der TV-Zauberkiste. Seine Mutter Joy – mit einem Oscar prämiert: Brie Larson – entwirft für ihn Mythen und Spiele, die seinen Geist wach halten sollen.
Für Jack – sehr natürlich gespielt von Jacob Tremblay – gibt es kein Draußen, nach dem er sich sehnen könnte, für ihn kommt alles Äußere aus der TV-Zauberkiste. Seine Mutter Joy – mit einem Oscar prämiert: Brie Larson – entwirft für ihn Mythen und Spiele, die seinen Geist wach halten sollen.(c) Universal Pictures
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Das Entführungsdrama „Raum“ nimmt Anleihen bei den Fällen Fritzl und Kampusch. Doch Regisseur Lenny Abrahamson setzt nicht auf Sensationalismus.

Ein Nachtkasten. Eine Tischlampe. Ein himmelblauer Kleiderschrank. Eine Kochnische mit Minibackofen. Ein Kühlschrank. Ein kleiner Esstisch aus Plastik. Zwei Klappstühle. Ein rosa Waschbecken. Ein Klosett. Eine Badewanne. Ein alter Röhrenfernseher. Ein Bett. Das ist der titelgebende 16-Quadratmeter-„Raum“ aus Lenny Abrahamsons Verfilmung von Emma Donoghues gleichnamigem Roman. Hier lebt der fünfjährige Jack mit seiner Mutter, seit er denken kann. Das ist seine Welt, die einzige Welt, die er kennt. Die Grenzen dieses Universums sind eng gesteckt: vier Wände, mit abgewetzten Spanplatten vertäfelt, ein dreckiger Teppichboden, und die Luke im schallisolierten Dach als einziger Lichtspender. Doch Jack weiß nichts von den großen Weiten da draußen. Für ihn hat dieser Wohnwürfel die Ausmaße seiner jungen Fantasie. Wo kein Platz ist, schafft man ihn im Kopf.

Warum Jack (Jacob Tremblay) und seine junge Mutter Joy (Brie Larson) dort sind, wo sie sind, erfährt man erst nach einer halben Stunde, obwohl sich die meisten Zuschauer, insbesondere die österreichischen, sehr schnell einen Reim auf das präsentierte Szenario machen werden. „Raum“ ist ein Entführungsdrama, das Anleihen bei den Fällen Fritzl und Kampusch nimmt. Doch von Sensationalismus fehlt hier jede Spur. Wie schon die Vorlage (Donoghue zeichnet auch für das Drehbuch verantwortlich) hat der Film kaum Interesse an den schmutzigen Einzelheiten der wahren Geschichten, die ihm zugrunde liegen. Stattdessen erzählt er von menschlichem Anpassungsvermögen und Erfindungsreichtum, vom Überlebenswillen in Extremsituationen, von der schwierigen Beziehung zwischen Mutter und Kind und nicht zuletzt davon, wie man ein Lebensalter hinter sich lassen muss, um ein neues zu beginnen.

Abrahamson sperrt den Zuschauer von Anfang an mit den Hauptfiguren ins Scheunengefängnis. Doch klaustrophobische Stimmung kommt nur selten auf, weil der Film immer wieder in Jacks Perspektive wechselt. Mit seiner Off-Stimme (und Stephen Rennicks' zärtlicher Musik) im Ohr erkundet man jeden Winkel, lernt die imaginären Koordinaten des Raumes kennen: die selbst gebastelten Spielsachen, die Kinderzeichnungen an den Wänden, die Gegenstände, die für Jack alle einzigartig sind und eine Persönlichkeit haben. Aber auch die von Joy entworfenen Mythen, Regeln, Spiele und Rituale, die den Geist des aufgeweckten Jungen beschützen und seinen Körper fit halten sollen. Der Mikrokosmos lebt davon, dass er ein abgeschlossenes System ist, dass es kein Draußen gibt, nach dem das Kind sich sehnen könnte – alles Äußere kommt in den Augen Jacks aus der TV-Zauberkiste.

Das erste Mal unter freiem Himmel

Die elliptische Erzählweise (den Wechsel der Jahreszeiten indizieren Regentropfen und Schneespuren auf dem Dachfenster) sowie das sprunghafte Wechselspiel zwischen Detailaufnahmen, Totalen, Auf- und Untersichten erweitern sukzessive das Feld der Wahrnehmung, sodass der Raum einem bald größer und faszinierender erscheint, als er ist. Und dann wähnt man sich fast zu Hause in diesem brüchigen Familienidyll.

Aber nur fast. Denn immer, wenn Old Nick – so nennt Joy ihren Entführer – zu Besuch kommt und Jack sich im Kasten verstecken muss, wird man aus dem Traum eines würdigen Lebens gerissen. Und man fiebert mit, als die Mutter einen Plan ausheckt, um endlich auszubrechen. Damit Jack ihr helfen kann, muss sie seine Illusionen zerstören – eine schmerzliche kopernikanische Wende. Als der Bub das erste Mal den freien Himmel sieht, ertönt Post-Rock-Bombast der Band This Will Destroy You, doch Jack übersteht den Überwältigungseffekt.

Fixierung auf eine Bezugsperson

Man kann es nicht wirklich Spoiler nennen, wenn man verrät, dass die beiden freikommen – denn das passiert ziemlich genau zur Hälfte des Films, und „Raum“ ist kein Thriller. Der zweite Teil widmet sich in unaufgeregter Weise der Traumabewältigung und Resozialisierung von Jack und Joy. Der Junge muss erst mit der ihm fremden Freiheit umgehen lernen. Zuerst bereiten ihm die unscheinbarsten Dinge Schwierigkeiten: Wenn jemand an die Tür klopft, hält er es anfangs für ein Ticken. Die jahrelange Fixierung auf eine Bezugsperson macht es ihm zudem nicht leicht, neue Menschen an sich heranzulassen – manchmal wird ihm alles zu viel, und dann sehnt er sich nach seinem „Raum“ zurück. Auch Joy ist überfordert. Vom Medienrummel, von zwiespältigen Emotionen gegenüber ihren Eltern (Joan Allen und William H. Macy), von der Erkenntnis, dass die Zeit trotz ihres Verschwindens nicht stehen geblieben ist.

Die Struktur des Films fordert eine große Bandbreite von seinen Hauptdarstellern, doch beide sind ihren Rollen gewachsen. Tremblay wirkt sehr natürlich, ob er nun einen Wutanfall hat oder sich in die Arme seiner Mutter flüchtet, und Larson – ihre Performance wurde mit einem Oscar bedacht – verfügt über eine nuancierte mimische Ausdruckskraft, die heutzutage selten ist bei Schauspielerinnen (und Schauspielern) ihres Alters. Das allein schon macht „Raum“ sehenswert, und man darf gespannt sein, was als Nächstes auf Larsons Programm steht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.03.2016)

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