„Alice im Wunderland“: Alice mit dem erhobenen Zeigefinger

Alice (Mia Wasikowska) reist durch die Zeit, um die verschollene Familie des Verrückten Hutmachers (Johnny Depp) zu finden.
Alice (Mia Wasikowska) reist durch die Zeit, um die verschollene Familie des Verrückten Hutmachers (Johnny Depp) zu finden.(c) Disney
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„Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln“ ist ärgerlich moralisch geraten. Regisseur James Bobin setzt auf den Gruselfaktor und Science-Fiction-Elemente, die nicht recht zur Geschichte passen wollen.

Das Gerät nennt sich Chronosphäre, es ist mannshoch, hat die Form einer Kugel, man kann mit ihm durch die Zeit reisen, und es spielt im zweiten Teil von „Alice im Wunderland“ eine Schlüsselrolle: Immer wieder nimmt die zur wagemutigen Abenteurerin und Kapitänin gereifte Alice (Mia Wasikowska) in diesem metallisch glitzernden Gefährt Platz, reist durch stürmische Meere von Tagen und Jahren, um den Hutmacher (Johnny Depp) vor dem sicheren Kummertod zu bewahren. Und immer wieder fragt man sich, wozu Alice dieses Ding eigentlich braucht. Alice, die in dem 1865 erschienenen Buch von Lewis Carroll an einem Fläschchen nippt, auf dem „Trink mich“ steht, und daraufhin schrumpft. Alice, die an einem Kuchen knabbert und wieder wächst. Alice, die durch ein Kaninchenloch fallen kann und die eine Königin in ein Kätzchen verwandelt – durch bloßes Schütteln! Aber für die Zeitreise braucht sie ein kompliziertes, an ein Gyroskop erinnerndes Gefährt, das aus einem x-beliebigen Science-Fiction-Movie entliehen zu sein scheint? Was für ein fundamentales Misstrauen in die Fantasie, diese alles, auch die Zeit sprengende Kraft!

Johnny Depp als gruseliger Clown

Und wie seltsam deplatziert. Denn die Figuren sind ja auch in „Alice im Wunderland – Hinter den Spiegeln“ von Regisseur James Bobin noch die gleichen wie im ersten Teil, den Tim Burton in Szene gesetzt hat, und auch das Setting ist dasselbe. In diesem altmodisch-märchenhaften Reich mit seinen verwunschenen Wäldern und seinen Teegesellschaften will die Rote Königin nach wie vor Köpfe abhacken lassen, Anne Hathaway darf sich als Weiße Königin in anmutig manierierter Weise durch das Geschehen winden, Stephen Frys pummelige Grinsekatze verschwindet nach Belieben, einzig Johnny Depp hat sich maßgeblich verändert. Nicht zum Besseren. Er hat unter Burton den verrückten Hutmacher gegeben, jetzt spielt er – noch viel stärker überschminkt – den Hutmacher als eine Art Horrorclown. Ihm möchte man nicht im Dunklen begegnen, nicht als todkrankem Bleichgesicht und nicht als angefärbtem Gesunden. Man versteht gar nicht, warum Alice ihm helfen will.

Natürlich gibt es auch hier ein paar hübsche Bilder von fliegenden Schaukelpferden in Libellengröße, manischen Hasen und anderen seltsamen Gestalten, wie das ja schon bei Tim Burton der Fall war, der im Übrigen ebenfalls im Wesentlichen Lewis Carrolls Figurenfundus plünderte. Beide Teile haben mit ihrer Vorlage wenig gemein, wobei Burton wenigstens eine Art Stimmung traf. Bei Bobin gerät alles zu gruselig.

Das wirklich Ärgerliche an diesem Film ist aber der Plot, den Linda Woolverton ersonnen hat: Lewis Carroll hat sich ja gerade den Spaß gemacht, seine junge Zuhörerin, Alice Pleasance Liddell, der er diese Geschichte als Erstes erzählt hat, aus der gesitteten und logischen Welt in eine andere zu entführen, wo alles möglich ist, in der man mit Küchenutensilien auf Babys wirft und im eigenen Tränensee schwimmen kann. Im Film dagegen begegnen wir auf jeder Ebene einer banalen logischen bzw. psychologischen Herleitung, was auch damit zu tun hat, dass wir ja mit der Chronosphäre in die Vergangenheit und damit in die Kindheit der Protagonisten reisen. Was da alles schiefgegangen ist! Am Ende wissen wir, warum die von Helena Bonham Carter gespielte Rote Königin einen gar so großen Schädel hat und gern andere einen Kopf kürzer machen möchte (das hat mit ungerechten Eltern zu tun und mit schnödem geschwisterlichen Verrat, arme Iracebeth). Wir lernen, warum Alices Mutter so ängstlich ist, dass der verrückte Hutmacher einen wirklich gar strengen Vater und die Weiße Königin etwas zu verbergen hat.

Küchenphilosophie

Dahinter droht der Zeigefinger: Wenn man kapiert, dass der Papa nur das Beste wollte, steht einer Versöhnung nichts mehr im Weg. Wer gefehlt hat, muss bereuen. Wer um Entschuldigung bittet, dem muss vergeben werden. Die Eltern müssen zwar loslassen lernen, dafür sollen die Kinder aber nicht nur an sich denken. Und damit neben all der Küchenpsychologie und -moral auch die Küchenphilosophie nicht zu kurz kommt: Wir dürfen die Zeit nicht als unseren Feind betrachten, das sei sie nämlich nicht, auch dann nicht, wenn sie böse funkelnde Augen wie Sacha Baron Cohen in diesem Film hat und Schulterpolster trägt, die so groß sind, dass sie nicht mehr durch die Tür passen will.

Alles, wirklich alles wird hier moralisch begleitet und in Kausalketten gelegt. „Im Absurden vermag der Geist einen Ausweg aus allen beliebigen Schwierigkeiten zu finden“, schrieb André Breton über „Alice im Wunderland“, und weiter: „Die Neigung zum Absurden öffnet dem Menschen aufs Neue das geheimnisvolle Königreich der Kinder.“

In diesem Sinn bleibt dieser Film jedenfalls gnadenlos erwachsen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.05.2016)

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