„Um Gottes willen, helft uns!“

Blick von der italienischen Insel Lampedusa auf das Mittelmeer, über das seit Jahren Hunderttausende Asylsuchende nach Europa kommen wollen.
Blick von der italienischen Insel Lampedusa auf das Mittelmeer, über das seit Jahren Hunderttausende Asylsuchende nach Europa kommen wollen.(c) Filmladen
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Gianfranco Rosi zeigt in seinem preisgekrönten Werk „Seefeuer“ die Flüchtlingstragödie unkommentiert aus der Perspektive Lampedusas. Ab Freitag im Kino.

Das Leben auf der Insel Lampedusa macht einen ruhigen Eindruck. Die Tage sind lang, es gibt nicht viel zu tun. Der neunjährige Samuele hat sich eine Steinschleuder gebastelt, mit einem Freund macht er die felsige Küstengegend unsicher. Gemeinsam schnitzen sie Gesichter in die fleischigen Blätter verstreuter Kakteen und nutzen sie als Zielscheiben. Oder sie stellen sich vor, sie könnten die großen Schiffe draußen auf dem Meer mit ihren Fantasiegewehren versenken. Doch die Militärkreuzer zeigen sich unbeeindruckt von imaginären Schüssen, auch die Wellen machen ihnen nichts aus. Gefährlich ist das Meer nur für die Flüchtlinge aus Afrika und Syrien, die hier regelmäßig in überladenen Booten ankommen. Beim Versuch, Italien zu erreichen, sollen seit 1993 etwa 20.000 von ihnen ertrunken sein.

In Gianfranco Rosis Dokumentarfilm „Fuocoammare“, der dieses Jahr auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde, stehen Alltag und Ausnahmezustand unkommentiert nebeneinander – und genau darin liegt seine politische Dimension. Rosi ging 2014 nach Lampedusa, weil er der polemischen Berichterstattung zur humanitären Krise kein Vertrauen schenkte und sich ein eigenes Bild machen wollte. Aus dem ursprünglichen Plan, einen Kurzfilm zu drehen, entwickelte sich rasch ein größeres Projekt. Rosis Zugang ist weder journalistisch noch thematisch: Wie schon bei „Sacro Gra“, seinem (ebenfalls preisgekrönten) Porträt peripherer Existenzen entlang einer römischen Ringautobahn, stehen Menschen im Mittelpunkt – ganz gleich, woher sie kommen.

Über Einwohner wie den vorwitzigen Samuele nähert sich Rosi der entrückten Atmosphäre und gemessenen Zeitlichkeit des Eilands. Impressionistische Stimmungsbilder suggerieren einen unberührten, fast mythischen Vorposten Europas. Als der Schrecken plötzlich einbricht, wirkt er im Kontrast desto eindringlicher. Ein Radio-DJ sendet auf Wunsch seiner Hörer sizilianische Schlager über den Äther – durch denselben Äther geistern aber auch die herzzerreißenden Funksprüche der Schutzsuchenden. Als Antwort auf ihre Fragen nach präzisen Koordinaten erhält die Küstenwache oft nur einen Ruf des Entsetzens: „Um Gottes willen, helft uns!“

Die schreckliche Normalität der Seenot

Und dann stürzt uns der Film in eine andere Art von Normalität: Die der Seenotrettungsmission Mare Nostrum (die 2014 eingestellt und durch viel geringer budgetierte Operationen ersetzt wurde). Unheimlich gleiten die Scheinwerfer bei ihren Ausfahrten über die dunkle Wasseroberfläche. Zunächst zeigt Rosi nur das Schicksal der Geretteten. Wie sie abgefangen, in Busse gesteckt, in Auffanglager verfrachtet, fotografiert, nummeriert werden (nur wenige Szenen brechen den befremdlichen Pragmatismus auf – einmal hört man einen erschreckenden Erfahrungsbericht in Form eines ekstatischen Chorals, später improvisieren die Angekommenen ein Fußballspiel im Hof des Lagers). Doch irgendwann konfrontiert uns der Regisseur auch mit den Opfern, den Toten: Nahezu unerträgliche Aufnahmen, frei von Sensationalismus, aber durchdrungen von Trauer und Wut.

Während sich andere Krisenfilme, etwa „Lampedusa im Winter“ des Österreichers Jakob Brossmann, der Beziehung zwischen Einheimischen und Ankömmlingen widmen, vermittelt „Fuocoammare“ den Eindruck nahezu vollständiger Dissoziation – Samueles Coming-of-Age-Geschichte würde als separate Erzählung einwandfrei funktionieren. Aber Rosi geht es mit seinem gespaltenen Konzept eben darum aufzuzeigen, wie sehr sich Europa mit den Katastrophen im Mittelmeer arrangiert hat, wie sehr diese zum bloßen Hintergrundrauschen verkommen sind.

Als Bindeglied zwischen den beiden Welten des Films erscheint nur der empathische Inselarzt Doktor Bartolo. Er ist für Samueles träges Auge ebenso zuständig wie für die unzähligen Entkräfteten und Erschöpften, die Monat für Monat in Lampedusa landen. Seine Kollegen glauben, bei dem ganzen Elend, das er schon gesehen hat, sei er schon längst abgestumpft, aber der Doktor versichert: An manche Dinge gewöhnt man sich nie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.07.2016)

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