„Julieta“: Almodóvar ganz mechanisch

„Julieta“
„Julieta“(C) Tobis Film
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Schuld, Verlust und eine traumatisierte Mutterfigur: „Julieta“ ist ein Muster-Melodram, eine Routineübung für Pedro Almodóvar – doch so wirkt der Film leider auch.

Es ist eine flüchtige Begegnung, die die Titelheldin von Pedro Almodóvars neuem Film, „Julieta“, aus der Bahn wirft. Auf der Straße läuft ihr eine alte Freundin ihrer Tochter Antía über den Weg und erzählt davon, diese kürzlich getroffen zu haben. Sie weiß nicht, dass Antía sich vor 20 Jahren unangekündigt aus Julietas Leben verabschiedet hat und ihr seitdem jeden Kontakt verweigert. Auch der Zuschauer ist in diesem Moment noch ahnungslos: Der verstörte Gesichtsausdruck Julietas, ihre Entscheidung, eine Portugal-Reise mit dem Lebensgefährten abzublasen und in ihre alte Wohnung zu ziehen, scheinen rätselhaft. Doch bald wird klar, dass es die ersten Risse in den Nähten herber Wunden sind, in die man tief wird blicken müssen, um sie zu heilen.

Das ist die Logik des Melodrams: Gefühle lassen sich niemals verdrängen, sie bestehen darauf, gefühlt zu werden, durchbrechen sogar die Mauern der Zeit – erst in Form von Erinnerung, später als Tränen, auf der Leinwand und im Kinosaal. Nur so kann die Katharsis zu ihrem Recht kommen, nur so können Traumata überwunden werden. In dieser Hinsicht ist „Julieta“ ein Musterexemplar des Genres. Seine Erzählstruktur enthält sogar eine Reflexion der therapeutischen Idee: Julieta, als versehrte Mittfünfzigerin eindringlich gespielt von Emma Suárez, beginnt, ihre Geschichte niederzuschreiben – mehr für sich selbst als für ihre Tochter, an die sie ihre Zeilen adressiert. Das dient als Auslöser einer ausgedehnten Rückblende, die dreißig Jahre ihres Lebens vor uns auffaltet und so Stück für Stück ans Licht bringt, was im Argen liegt.

Der Tod als Keim einer Ehe

Als junge Frau wird die Hauptfigur von einer strahlenden Adriana Ugarte verkörpert, die mit blonder Achtziger-Popdiva-Frisur ganz und gar nicht wie Suárez aussieht – was das Phantasmatische der Erinnerungssequenzen aber nur betont. Schon Julietas erste große Liebe ist eng mit einem Schuldkomplex verflochten: Im Zug setzt sich ein alter Mann zu ihr, sucht verschämt ihre Nähe. Sie flieht in den Speisewagen und vertraut sich dort Xoan (Daniel Grao) an, einem jüngeren, hübscheren Fremden. Beim nächsten Halt läuft der Abgewiesene auf die Schienen und lässt sich überfahren. Julieta fühlt sich verantwortlich und sucht Trost in den Armen ihrer neuen Bekanntschaft – der Tod als schicksalhafter Keim einer Ehe. Diese Urszene wird später wieder aufbranden, als Xoan nach einem Streit aufs Meer hinausfährt und einem Sturm zum Opfer fällt, und ein weiteres Mal, als Julietas Tochter verschwindet, weil sie ihrer Mutter den Verlust des Vaters zum Vorwurf macht. Doch wie sühnt man für etwas, das außerhalb der eigenen Macht lag?

Dass der Film keine Antwort darauf findet, liegt daran, dass er gar nicht wirklich zu suchen scheint. Die Schwere und Komplexität seiner Themen – Schuld, Verlust, Verantwortung – wird konterkariert von einer nahezu mechanischen Inszenierung. Auch wenn der Vergleich nicht ganz fair ist: Nach der Lektüre der Vorlage, dreier verknüpfter Kurzgeschichten der kanadischen Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro, erscheint „Julieta“ wie die drastische Verflachung einer vielschichtigen Innenschau. Dabei ist Almodóvar bekannt für seine einfühlsamen Frauenporträts. Das Melodram ist sein Stammgenre, die Mutterfigur ein Leitmotiv seines Schaffens. Was folglich ein Heimspiel sein sollte, wirkt bei aller Eleganz wie die routinemäßige Erfüllung eines Plansolls, als hätte die verhaltene kritische Reaktion auf seine jüngsten beiden Arbeiten – den exaltierten Thriller „Die Haut, in der ich wohne“ und die hysterische Komödie „Fliegende Liebende“ – einen Markensicherungsfilm notwendig gemacht. Alle Stilmerkmale des Regisseurs sind da, teils so überdeutlich, dass sie zum Selbstzweck verkommen. Almodóvars markante Farbdramaturgie etwa war selten so plump: Bei ihrer ersten Begegnung mit Xoan zeigt sich Julieta ganz in unschuldigem Blau. Im Alter trägt sie eine schwarze Jacke (Trauer!), darunter ein knallrotes Shirt (Leidenschaft!). Anderswo wirken die Farbexzesse schlichtweg deplatziert, ebenso wie die ostentative Ausstattungswut: Die hübschen Gemälde, Skulpturen und Keramiken im Hintergrund tragen nichts zur Atmosphäre bei, sie lenken bloß ab.

Die einzige wirklich gute visuelle Idee des Films ist zugleich seine einfachste: Nach Xoans Tod wird die depressive Julieta von ihrer Tochter gepflegt. Nach einem Bad verdeckt sie ihr Gesicht beim Haaretrocknen mit einem Handtuch, und als es wieder zum Vorschein kommt, wurde die jüngere Darstellerin von der älteren abgelöst. Ein Augenblick, der viel über die bittere Beiläufigkeit von Traumatisierung aussagt – und das ganz unmelodramatisch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2016)

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