Ein Wachmann des Kapitalismus

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Im großartigen Film „Der Wert des Menschen“ ringt ein 51-jähriger Arbeitsloser um Würde – und allein schon sein Gesicht wirkt schmerzhaft erhellend. Ab Freitag zu sehen.

Menschen stehen auf einer Wiese, mit Schaufeln in der Hand. Sie sind auf einer Schulung für Arbeitslose und müssen sich nun tüchtig, rasch ein Grab schaufeln. Das eigene Grab – besser gesagt, das Grab ihrer Illusionen, ihrer begangenen Fehler; ihr ganzes bisheriges Leben soll in die Grube. Danach sollen sie sich völlig neu erfinden und innerhalb eines Vierteljahres Bewerbungsvirtuosen und Jobjäger werden, die alles der Arbeitsuche opfern, bis hin zu ihren Beziehungen. Denn, so müssen die Teilnehmer lernen: „Wir haben falsch gelebt. Falsch!“

Die Szene stammt zwar nicht aus dem französischen Film „Der Wert des Menschen“, der diese Woche in die österreichischen Kinos kommt, die Erinnerung daran drängt sich aber auf. Zehn Jahre ist es her, dass Joachim Zelters beklemmende Satire „Schule der Arbeitslosen“ erschienen ist, in der alle deutschen Arbeitslosen in das entlegene „Sphericon“ befördert werden, um sich dort via Gehirnwäsche quasi von Grund auf neu zu programmieren.

Hier grelle Satire mit Orwell-Anklängen, dort – in Stéphane Brizés stilistisch völlig unterschiedlichem Film „Der Wert des Menschen“ – leiser sozialer Realismus, der Stil könnte kaum konträrer sein. Trotzdem geht jedes dieser zwei Werke unter die Haut, weil es ihm auf seine Art gelingt, Entwürdigung durch die Mechanismen des Arbeitsmarktes (der Film „Der Wert des Menschen“ heißt im französischen Original „la loi du marché“, also „Das Gesetz des Marktes“) so zu zeigen, dass es richtig wehtut.

Im Film liegt das hauptsächlich am Hauptdarsteller, Vincent Lindon, der im vorigen Jahr nicht umsonst in Cannes den Kritikerpreis für die beste Darstellung bekam. Regisseur Stéphane Brizé scheint im „Wert des Menschen“ wenig zu tun – und tut genau damit sehr viel. Er folgt dem Gesicht dieses Mannes, der im Film Thierry heißt, über 50 und seit 15 Monaten arbeitslos ist; er wurde aus wirtschaftlichen Gründen entlassen, obwohl der Betrieb solide Gewinne erzeugt. Doch Thierry ist es leid, mit den Gewerkschaftern für seine Wiedereinstellung zu kämpfen, er will die alte Arbeit hinter sich lassen und eine neue finden.

Wenn Arbeitslose einander analysieren

Aber wie das tun, „positiv“, „offensiv“, „strahlend“, wie es erwartet wird – wenn die Jobsuche in Wahrheit fast aussichtslos ist? Genau dieses grausame Dilemma macht Lindons Darstellungskunst spürbar. Er wirkt wie einer, der unermüdlich und auch erfolgreich darum ringt, innerlich den Kopf über Wasser zu halten, tapfer zu bleiben; und zugleich vermeint man in jedem Moment die Tränen zu sehen, die gerade noch erfolgreich zurückgehalten werden: beim Gespräch mit seiner Bankberaterin, dem Abendessen mit seinem behinderten Sohn, dem Verkauf des bescheidenen alten Ferienapartments, bei einem von vornherein so gut wie hoffnungslosen, demütigenden Skype-Bewerbungsgespräch oder einer Arbeitslosenschulung, auf der die übrigen Teilnehmer gnadenlos seine „schlaffe“, „müde“ „Performance“ sezieren – während der Zuschauer erraten kann, wie viel Energie Thierry allein schon diese „Performance“ kostet. Eng sind alle Räume, in denen sich Thierry bewegt, eng wie die Möglichkeiten, die ihm als Arbeit suchender 51-Jähriger bleiben.

Endlich bekommt Thierry doch noch einen Job, als Wachmann eines Supermarktes. Im engen Kontrollraum hat er die Weiten dieses Riesengeschäftes zu überwachen, das Verhalten der Kunden und des Personals an der Kasse. Muss jene mit verhören, die etwas gestohlen haben, oder Kollegen, die etwa Bonuspunkte der Kunden für sich verbuchen. Besonders auf die Kollegen solle er achten, wird Thierry angewiesen, selbst kleinste Regelverstöße melden; denn der Standortleiter muss Personal reduzieren . . . Auch zwanzig Jahre gute Dienste helfen da einer Angestellten nicht.

Kaum ein Wort spricht Vincent Lindon als Wachmann die ganze Zeit über, was er fühlt und denkt, muss man bis zum Ende seinem Gesicht ablesen – und am Ende einer einfachen Handlung. Ein paar Schritte sind es nur – aber sie genügen, um dem Zuschauer das Gefühl zu vermitteln: Hier hat sich einer seine Würde wiedergeholt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2016)

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