Wir würden mit Tschick ins Auto steigen!

Auf dem Weg in die Walachei oder irgendwohin: Anand Batbileg und Tristan Göbel als Tschick und Maik im geklauten Lada.
Auf dem Weg in die Walachei oder irgendwohin: Anand Batbileg und Tristan Göbel als Tschick und Maik im geklauten Lada.(c) Studiocanal
  • Drucken

Fatih Akin hat den grandiosen Bildungsroman „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf verfilmt – und knüpft dabei an seinen Erfolg „Gegen die Wand“ an. Wie schön, dass Maik und Tschick ein besseres Schicksal beschieden ist.

Es reicht. Irgendwann reicht es. Nicht genug damit, dass die Mutter gerade in der Entzugsklinik eingecheckt hat. Nicht genug auch damit, dass der Vater diese Gelegenheit nutzt, zwei Wochen auf „Geschäftsreise“ zu fahren. Nein, er lässt sich von seiner gerade einmal volljährig wirkenden „Assistentin“ auch noch im Eigenheim abholen und legt ihr vor dem Sohn demonstrativ die Hände um die Hüften. Und da hat er genug, dieser Sohn. In einer kurzen Traumsequenz sieht man Maik, 14, wie er die Pistole zieht: Das Wasser des Pools hinter ihm glitzert blau, die Welt spiegelt sich in seiner Sonnenbrille, als der Vater samt Geliebter in sorgsam choreografierten Pirouetten zu Boden geht und das Blut spritzt, als hätte Tarantino mitgemischt.

Nein, das würde er natürlich niemals machen, dieser Maik, den seine Klassenkameraden Psycho nennen, weil er zuweilen sein Inneres nach außen kehrt und seine Haare sich nicht entscheiden können, ob er zu den angepassten oder zu den ausgeflippten Halbstarken gehören soll. Einerseits. Andererseits ist Maik einer, der immer mehr liebt und hofft und träumt, als die anderen ertragen können: Und da sind eben manchmal auch solche Träume dabei.

Blaulicht, Krankenwagen

Diese Szene findet sich nicht in der Vorlage, in Wolfgang Herrndorfs so freiheitstrunkenem wie hoffnungsfrohem Buch über das Erwachsenwerden. Und das ist gut so, es ist gut, dass Fatih Akin, der sonst Herrndorf sehr behutsam folgt, der auch präzise den Ton trifft, sich dieses Bild erlaubt hat. Der Film braucht es, er hat ja wie alle Verfilmungen zu wenig Zeit. Immerhin muss er uns erklären, warum dieser Maik tut, was er tut. Ja, mehr: Er muss es schaffen, dass es uns ganz selbstverständlich vorkommt, dass ein nachdenklicher 14-Jähriger aus einer Mittelschichtfamilie, der seiner betrunkenen Mutter brav die Tasche hinterherträgt und sich nicht traut, das Wort an die Schöne zu richten, in die er verliebt ist, dass also ein eher zögerlicher, sanfter Typ zu einem Schulkollegen, den er kaum kennt und der ständig nach Alkohol riecht, in den zugegebenermaßen geklauten Lada steigt und mit ihm davonfährt. In die Walachei nämlich, was so viel heißt wie: irgendwohin. Weit weg.

Auf eine Weise knüpft Fatih Akin, dessen 2014 bei den Filmfestspielen in Venedig uraufgeführtes Völkermord-Epos „Cut“ viel gescholten wurde, an einen Film an, der ihn zum Regiestar machte: Wie in „Gegen die Wand“ (2004) beginnt auch „Tschick“ mit einem rasant inszenierten Unfall. Mit schwarzer Nacht und Blaulicht, mit Blut und grellweißen Krankenhausgängen. Beide Filme beschreiben, wie zwei Menschen, die auf den ersten Blick nichts gemein haben, die das Leben zufällig zusammengeführt hat, aufbrechen und die Freiheit suchen. Im einen Fall sind das Sibel und Cahit – sie wird von ihrer Familie streng überwacht, er ist Alkoholiker –, und die Freiheit, die sie suchen, kostet viel, zu viel. Im anderen sind es Maik und Tschick, ein ebenfalls ungleiches Paar. Ihr Aufbruch ist nicht schmerzhaft, ihr Weg nicht düster, alles ist hochgestimmt und führt doch am Abgrund entlang, was man dazwischen vergessen könnte, ja vergessen muss.

Clayderman als Soundtrack zur Revolte

Tristan Göbel und Anand Batbileg spielen Maik und Tschick: nicht erwachsen und nicht Kind, keine Buben mehr und doch noch keine jungen Männer – die deutsche Sprache kennt keinen Begriff dafür, der nicht bewerten würde oder allzu gestelzt klänge. Die beiden sind wunderbar: Wunderbar, mit welch regloser Miene Tschick seinen neuen Freund fragt: „Schon wieder verliebt?“ Wunderbar, wie sich in dessen Gesicht Hoffnung, Verzweiflung und Resignation abwechseln.

Man könnte den beiden auch ohne jede dramatische Zuspitzung einfach dabei zusehen, wie sie über Landstraßen und Waldwege brettern, dabei Richard Claydermans Einspielung der „Ballade für Adeline“ hören, bis die Kassette zu eiern beginnt – als sei das der richtige Soundtrack für die Revolte (mit Verlaub: ist es). Wie sie entdecken, dass sie den Dosenöffner vergessen haben, wie sie versuchen, mit dem Feuerzeug die Tiefkühlpizza aufzutauen und dann mit der Pizza Fußball spielen; oder wie sie sich, nachdem sie fast von der Polizei erwischt und dabei getrennt wurden, unter einem Windrad wiederfinden.

Ja, sie sind schlau. Ja, sie werden viel erfahren in dieser Zeit. Dazu gehört natürlich die Begegnung mit der rabiaten Isa (Mercedes Müller) – samt Bad im Teich und dem, was folgt. Süß, wie schwer das ist und wie unbeschwert.
So viel kann man verraten, zumal über zwei Millionen Menschen ohnehin das Buch gelesen bzw. zu Hause haben, was in diesem Fall dasselbe ist, weil nicht vorstellbar ist, dass jemand das Buch weglegt, der die ersten Zeilen gelesen hat: Den beiden wird nichts passieren, was bedeutet – nicht mehr, als sie ertragen können. Denn das ist es doch, was hinter jeder Initiation steckt. Die Prüfung ist nicht leicht, sie ist nicht ungefährlich, aber sie ist machbar.

Und am Ende wird zwar vielleicht nicht alles gut. Aber das wird es ja, wenn man erwachsen ist, auch nicht.

Zur Person

Wolfgang Herrndorf, 1965 geboren, wusste bereits, dass er an einem Hirntumor litt, als er 2010 den Bildungsroman „Tschick“ abschloss. Das Buch wurde mehr als zwei Millionen Mal verkauft. 2011 erschien der Gesellschaftsroman „Sand“. Herrndorf starb 2013, die unvollendete „Tschick“-Fortsetzung, „Bilder deiner großen Liebe“, erschien posthum.

Fatih Akin, deutscher Filmregisseur mit türkischen Wurzeln, hat die Verfilmung von „Tschick“ eher kurzfristig übernommen und mit Lars Hubrich das Drehbuch noch einmal überarbeitet. Ursprünglich war David Wnendt als Regisseur vorgesehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.