"Das weiße Band" von Haneke: Nüchterner Humanismus

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Sein Film „Das weiße Band“, in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, beschreibt erneut die Genealogie menschlicher Gewalt. Ein Ereignis.

Humanistisches Kino braucht keine weit aufgerissenen Kinderaugen, keine flehenden Geigen, keine absolute Moral. Es kann auch scharf wie ein Rasiermesser sein: Michael Hanekes Filmen wird gern Kälte und Kalkül unterstellt. Eine Trotzreaktion auf seine kompromisslosen Inszenierungen, die stets von klaren, verständlichen Situationen ausgehen und im Unklaren, Unverständlichen und Monströsen, also im Menschlichen, enden. Hanekes Filme stellen immer auch den Versuch dar, eine Genealogie der zwischenmenschlichen Gewalt zu entwickeln.

Ein norddeutsches Dorf am Vorabend des Ersten Weltkriegs ist die Bühne für sein historisches Drama „Das weiße Band“, das bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes die Goldene Palme erhalten hat. Hanekes Stammkameramann Christian Berger zeichnet das Soziotop nüchtern auf: Gefilmt in kontrastintensivem Schwarz-Weiß wohnt man alltäglichen Verrichtungen und Gesprächen, aber auch den außergewöhnlichen Vorkommnissen bei, die diesen Film rhythmisieren und antreiben.

Gleich in der ersten Minute stürzt ein Pferd über eine gespannte Leine. Der Reiter, Dorfarzt, wird schwer verletzt. Die Oberen, der Gutsverwalter (mannsbildlich donnernd: Josef Bierbichler), der Baron (standesbewusst: Ulrich Tukur) und der protestantische Pastor (sensationell: Burghart Klaußner) sind bemüht, die Ordnung und damit ihre eigene Macht aufrechtzuerhalten, und machen den (vermeintlich) Schuldigen in einer armen Bauernfamilie aus. Die Schatten werden länger und deutlicher: ein Beet wird verwüstet, der Sohn des Barons entführt und am nächsten Tag misshandelt und an einen Baum gebunden wieder aufgefunden. Es sind Symptome einer gesellschaftlichen Krankheit, die von Eltern an ihre Kinder weitergegeben wurde, die in deren jungen Körpern und Köpfen mutiert.

Was daraus entsteht? Keine Antworten. Haneke filmt die starke Hand von Mutter und Vater sowie deren absolutes Moralverständnis beiläufig und unaufgeregt: der Pastor erlaubt seinem Sohn, einen kranken Wellensittich gesund zu pflegen, und weist ihn auf die „Verantwortung“ hin.

Leidenschaft in Ketten

Wenig später liegt der Vogel erstochen auf dem Schreibtisch. Die jugendliche Eva (eine Entdeckung: Leonie Benesch) verliebt sich in den schüchternen, intelligenten Dorflehrer (Christian Friedel), aber der Vater (Detlev Buck) legt die Leidenschaft in Ketten. Der Pastor bindet seinen Kindern eine weiße Schlaufe um den Oberarm, wenn sie sich moralisch falsch verhalten haben, um „die Sünde fernzuhalten“. Das ganze Dorf soll es sehen können. „Ich habe Gott die Gelegenheit gegeben, mich zu töten“, sagt ein Bub in voller Anerkennung seiner Schuld.

Die Jungen verabsolutieren die Ideale der Alten, geben ihre eigenen Bestrafungen an die Schwächsten weiter. Sie spielen Gott und fordern ihn damit heraus. Die inhaltlichen Konnotationen sind offenkundig, aber Haneke geht es nicht nur um den Nazi-Faschismus, sondern „um die Wurzel des Terrorismus“ insgesamt. Den Schluss muss der Zuschauer, wie bei allen Filmen dieses Regisseurs, selbst ziehen.

Der Stoff von „Das weiße Band“ stammt aus Hanekes eigener Feder. Vor vielen Jahren wollte er ihn als ORF-Mehrteiler umsetzen. Einiges erinnert an einen TV-Film, den der Regisseur 1993 gedreht hat: die Adaption von Joseph Roths „Die Rebellion“ beginnt mit Wochenschau-Ausschnitten vom Ende des Ersten Weltkriegs, bevor der Erzähler den Zuseher an den einbeinigen Veteranen Alfred Pum (Branko Samarovski; im „Weißen Band“ in einer Nebenrolle zu sehen) heranführt. Der gottesfürchtige und obrigkeitshörige Mann versucht, mit einer Drehorgel über die Runden zu kommen, wird vom Rest der Gesellschaft allerdings mit Ausgrenzung bestraft. Sein Ende ist ein früher Zenith im Schaffen Hanekes: in seiner mit Orden behangenen Uniform hockt er als Klomann in einer öffentlichen Toilette, bevor der Altersschwache am Boden kriechend zwischen Pissoirs und Waschbecken zu einer gehauchten Rebellion ausholt.

Nichts an dieser Sequenz ist zynisch, kalt oder berechnend. In ihr kristallisiert sich Hanekes nüchterner, aber aufrichtiger Humanismus heraus. „Das weiße Band“ endet mit der Ermordung Franz Ferdinands in Sarajewo und der Kriegserklärung von Österreich-Ungarn an Serbien. Der historische Ablauf ist bekannt. Die Chronologie der Gefühle muss noch geschrieben, erzählt werden. „Das weiße Band“ ist erst der Anfang.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2009)

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