„Girl on the Train“: In der Vorstadtidylle lauert das Unglück

Emily Blunt beobachtet als alkoholkranke Rachel aus dem Zug ein jungen Paar – und ihren Exmann.
Emily Blunt beobachtet als alkoholkranke Rachel aus dem Zug ein jungen Paar – und ihren Exmann.(c) Constantin
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Emily Blunt ist umwerfend in dem sonst nur durchschnittlichen Thriller „Girl on the Train“ von Tate Taylor.

Das perfekte Leben gibt es nur aus der Sicht von außen. Wer an der Oberfläche kratzt, wird darunter schnell etwas entdecken, das nicht so makellos ist, wie es ausschaut. Freilich muss man nahe genug an diese Fassade herankommen. Rachel (Emily Blunt), das titelgebende „Girl on the Train“, tut das nicht. Sie fährt mit dem Zug bloß in Sichtweite der Vorstadtidylle nördlich von New York vorbei. Aus dem Fenster beobachtet sie obsessiv ein junges Paar (Luke Evans, Haley Bennett), das in einem der prächtigen, entlang der Gleise aufgereihten Häuser lebt wie in einer Auslage: Küsse auf dem Balkon, Kuscheln am Lagerfeuer im Garten und Sex hinter den großen, vorhanglosen Wohnzimmerfenstern. In diese junge Frau (später erfährt man, dass sie Megan heißt) projiziert Rachel ihre Wünsche – vor allem jenen nach Liebe: „Sie ist, was ich verloren habe. Sie ist alles, was ich will“, glaubt Rachel.

Sie selbst ist allein. Ihr Exmann Tom (Justin Theroux) wohnt in Nachbarschaft des jungen Paars mit seiner neuen Frau, Anna (Rebecca Ferguson), und dem Baby, das Rachel nicht bekommen konnte. Nun nuckelt sie einsam an der mit Wodka gefüllten sportlichen Trinkflasche. Aus ihrer Routine aus Selbstbetäubung und Eskapismus wird sie jäh gerissen, als sie sieht, wie Megan einen fremden Mann küsst. Erfasst von „blinder Wut“, wie sie selbst sagt, betrinkt sie sich heftig. Am nächsten Tag wacht sie blutverschmiert und ohne Erinnerung an die vorangegangene Nacht auf und erfährt, dass Megan (Haley Bennett) verschwunden ist.

„Girl in the Train“ wird mit Zeitsprüngen und aus der Sicht der drei Frauen Rachel, Anna und Megan erzählt. Die Handlung des Bestellers von Paula Hawkins wurde von England nach New York verlegt – sie hat trotzdem ein „britisches Feeling“, nicht nur, weil Emily Blunt Britin ist: Warmer Lichtschein aus den Häusern kontrastiert blaugrauen, regenverhangenen Himmel. Rachel torkelt in dieser Landschaft im Dauerherbst durch Laubwälder und über nasse Straßen. Ihr widmet der Film am meisten Zeit, aber sie ist wegen ihres Alkoholproblems eine unzuverlässige Erzählerin, zudem kann sie ihr eigenes Verhalten nicht berechnen. Blunt liefert eine umwerfende Leistung ab. Mit verschmiertem Kajalstift rund um die wässrigen Augen und Händen, die zu stark zittern, um sich Lippenstift aufzutragen, macht sie den sonst leider nur durchschnittlichen Thriller sehenswert.

Vorhersehbarer als „Gone Girl“

Die Plotwendungen drängen den Vergleich mit David Finchers Thriller „Gone Girl“ (2014, nach dem Roman von Gillian Flynn) auf. Dieser war aber weniger vorhersehbar. Während „Gone Girl“ im Grunde von einer dysfunktionalen Mann-Frau-Beziehung handelt, sind in „Girl on the Train“ die wichtigsten Figuren weiblich. Selbst bei der Polizei ermittelt mit Allison Janney eine Frau. Auch im Vorgängerfilm von Regisseur Tate Taylor, dem Überraschungshit „The Help“ (2011), agierte ein überwiegend weibliches Ensemble. Trotz des schwierigen Themas – afroamerikanische Haushaltshilfen in den rassistischen US-Südstaaten während der Bürgerrechtsbewegung – war die Stimmung positiv.

In „Girl on the Train“ hingegen verbindet die drei Hauptfiguren, dass sie unglücklich sind. Leider stützt sich die Figurenzeichnung zu viel auf Klischees, lässt zu wenige Nuancen zu: Die Mutter des Kleinkinds ist überfordert, die junge Ehefrau im Nachbarhaus sexy, und die kinderlose Verlassene empfindet sich als wertlos. Bei den männlichen Figuren werden ebenfalls Stereotype bedient: Der Mann ist ein Gefangener seiner Triebe!

In einer Hinsicht ist Rachel freier als die anderen: Sie muss ihr Unglück nicht hinter schönem Schein verstecken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2016)

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