Verfilmung: Faust, wie man ihn noch nie gesehen hat

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„Presse“-Premiere: Alexander Sokurows preisgekrönter, radikaler „Faust“. Schon die ersten zwei Szenen von Alexander Sokurows „Faust“ bringen die thematischen Umwälzungen auf den Punkt.

Durch die Wolken, vorbei an einem in himmlischen Gefilden hängenden Spiegel steigt die Kamera aufsehenerregend zur Erde hinab. Dann ein harter Schnitt auf das Geschlechtsteil einer Leiche: Doktor Faust ist an ihr zu Gange, beim Sezieren will er die Seele finden, betastet dazu die entnommenen Organe – doch vergeblich. So viel hätte ihm der Doktor schon über den Körper erzählt, sagt daneben Fausts Famulus Wagner, aber nichts über die Seele...

Schon die ersten zwei Szenen von Alexander Sokurows „Faust“ bringen die thematischen Umwälzungen und die Radikalität seiner Goethe-Deutung auf den Punkt: Der renommierte russische Kunstfilmer wendet sich ab von der metaphysischen Seite des Stoffs, vertieft sich ganz ins Körperliche. Die Lockungen der Lust, der Wunsch nach Macht, das Streben nach Geld treiben seinen in Armut lebenden Faust in die Fänge von Mephistopheles, der bei Sokurow nicht einmal so heißt: „Wucherer“ steht im Abspann. Der Filmemacher hat erklärt, dass er „zwischen den Zeilen“ von Goethe lesen wollte, aber er hat den Stoff gegengelesen: Sein 2011 mit dem Goldenen Löwen der Filmfestspiele Venedig prämierter Film ist ein jedenfalls ein Faust, wie man ihn noch nie gesehen hat.

Sinnliche Beschwörung des Irdischen

Dieser ungewöhnliche Faust ist auch eine Prachtrolle für den Österreicher Johannes Zeiler: Grüblerisch und doch souverän, selbstsicher Intelligenz aufblitzen lassend, wandert er durch eine von Sokurow komplex und sinnlich gestaltete Welt. Der russische Regisseur frönt seinen exzentrischen visuellen Vorlieben, verwendet verzerrte Bilder und monochrome Farben. Grünbraun dominiert, vermittelt das Gefühl, als sei man mit Faust eingetaucht in die Natur, könne mit ihm direkt „in ihre tiefe Brust“ schauen. Sokurow beschwört das Irdische, gibt ihm jedoch einem Ruch von Miasma: Immer wieder Bilder des Todes und von Tieren, insbesondere von Ratten in den verwinkelten, engen Gassen der historischen Stadt, die Sokurow im tschechischen Studio nachbauen ließ. Man möchte meinen, Faust sei schon in der Hölle – da wundert's auch nicht mehr, dass sein Widerpart nicht Mephisto heißt.

Dennoch ist dieser Wucherer ein Fabelwesen. Im öffentlichen Bad zeigt er sich nackt und sorgt für Aufsehen: Sein Körper erweist sich als unförmig, vorn ist er geschlechtslos, dafür hat er hinten ein Ringelschwänzchen – und einen Hang zur Flatulenz. Der eigenwillige, teils groteske Humor von Sokurows Adaption zeigt sich besonders an dieser vom russischen Akteur und Tänzer Anton Adasinsky gespielten Gestalt, die Faust beständig umkreist, herausfordert, verlockt: Der packende Pas de deux der beiden im Auftreten so gegensätzlichen und einander doch ergänzenden Figuren sorgt für den Sog des Films, selbst wo selbstbewusst statisch in theatralischen Konfrontationen verharrt wird – vor allem bei Debatten über das Wesen der Macht. Die unglaubliche Tonspur erzeugt indes einen anderen Strudel: Ganz auf Deutsch nachsynchronisiert, mit vielen Schichten, die ermöglichen, dass Faust häufig ins Zwiegespräch mit im Vorübergehen aufgeschnappten Dialogen tritt. (Wobei viele der berühmtesten Goethe-Sätze in den Hintergrund verbannt werden.)

Goethes Ideen auf den Kopf gestellt

Sokurow fusioniert die beiden kinematografischen Faust-Traditionen: Der bühnennahe Ansatz – wie bei der berühmten Filmversion der Gründgens-Theaterinszenierung – ist da noch zu spüren, aber dann drängt Sokurow mit virtuosen Kamera-Choreografien und verblüffenden Ideen zur fantastischen Lesart, für die etwa F. W. Murnaus überragender Faust-Stummfilm steht: So gehört der tragischste Moment eigentlich Wagner (sehr gut: Georg Friedrich), der über seinen sterbenden Homunkulus in Tränen ausbricht.

Ist er etwa der Menschenformer, als den Sokurow hier Faust absichtlich nicht zeigt? Die Faszination von Sokurows Interpretation liegt auch in ihrem Irritationspotenzial: Der Regisseur sieht darin eine zeitgemäße Parabel auf den Niedergang der europäischen Kultur – und beschließt damit seine Film-Tetralogie, deren andere Teile von Hitler, Lenin und Hirohito erzählten. Am Ende, vor der gewaltigen Kulisse von Islands Geysirlandschaften, stellt Sokurow Goethes aufklärerische Ideen auf den Kopf: Sein Faust triumphiert. Dann zieht er los in die Welt, um in die Fußstapfen der Tyrannen zu treten.

„Faust“-Diskussion

Der Venedig-Siegerfilm „Faust“ läuft ab Freitag in den heimischen Kinos. Das Wiener Filmcasino präsentiert dazu am Sonntag, dem 15. Jänner um 18 Uhr eine Podiumsdiskussion rund um Alexander Sokurows radikale filmische Goethe-Interpretation und andere Deutungen. Der Hauptdarsteller des Films, Johannes Zeiler, wird teilnehmen, außerdem u.a. Andreas Beck vom Schauspielhaus Wien, der Dramatiker Ewald Palmetshofer, der Sokurow-Experte Olaf Möller sowie „Presse“-Filmkritiker Christoph Huber. Moderation: „Presse“-Theaterspezialist Norbert Mayer.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2012)

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