„The Artist“: Das Leuchten aus den letzten Stummfilm-Tagen

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Der französische Regisseur Michel Hazanavicius lässt nichts an Effekten aus, um den Glamour des frühen Films zu imitieren. Ihm ist eine bezaubernde Hommage gelungen. Ab Freitag.

Dieser Film ist kein Stummfilm: „The Artist“ beginnt zwar wie ein Spionagethriller von Fritz Lang aus den Zwanzigerjahren, in Schwarz-Weiß mit eingeblendeten Texttafeln, aber es gibt eine Tonspur. Darauf unterstreicht großer Orchesterklang die dramatischen Szenen von Gefahr und Flucht des Helden. Er soll mit Lärmfolter zum Sprechen gebracht werden, macht expressive Gesten – kein Ton kommt über die Lippen, man hört nur bedrohliche Musik. Die Kamera fährt zurück und zeigt die Musiker in einem großen Kino in voller Aktion. Ein Schwenk, und man sieht das verzückte Publikum, ebenfalls in Schwarz-Weiß und stumm, selbst das begeisterte Klatschen hört man nicht, im Film über Silent Movies.

Michel Hazanavicius spielt also nur mit der Idee des Stummfilms. In seinem im Vorjahr in Cannes prämierten, eben erst mit drei Golden Globes ausgezeichneten Werk reflektiert er das frühe Kino an sich, bedient sich schamlos bei den Klassikern – etwa bei Vidor, Murnau, Sternberg, Borzage –, plündert sogar die Musik von „Vertigo“ und schafft ein Meta-Genre, an dem alles künstlich und perfekt scheint. Die erste Szene aber enthüllt bereits, worum es wahrscheinlich geht. Man sieht die Zuseher nach Ende des Films: Sie strahlen, ihre Augen leuchten, sie haben sich ein kleines bisschen Glück geholt. Wohin verschwunden sind all die Jahre, in denen der Wilde Westen im Elan der Gründerjahre und mit gründlichem Zynismus so viel Sehnsucht weckte?

„Who's that girl?“

Die Story ist einfach, massentauglich: Hollywood 1927, die Kinograph Studios: „Boy meets girl“. Stummfilm-Star George Valentin (Jean Dujardin) stößt beim Posieren mit der bildhübschen Peppy Miller (Bérénice Bejo) zusammen. Sie gibt ihm einen Kuss. „Who's that girl?“, fragen die Gazetten. Sie ist eine junge Statistin, eine Tänzerin, der Valentin fast selbstlos zu einer kleinen Rolle verhilft, dann zu größeren Aufgaben. Er erkennt ihr Talent, schätzt aber die Gefahren für die eigene Karriere völlig falsch ein. Vergeblich will ihn sein Produzent von den Segnungen modernerer Zeiten überzeugen. John Goodman spielt diesen Filmmogul mit derart zielgerichteter, roher Energie, dass es auch völlig logisch erscheint, wie er seine Kinolegende fallen lässt. Der erste Tonfilm kommt, mit ihm Millers Aufstieg, während Valentin starrsinnig beim Stummfilm bleibt, das ganze Vermögen in ein Riesenprojekt steckt. 24. Oktober 1929: Premiere zweier Kinofilme. Valentins „Tears of Love“ floppt, macht den Star zu Beginn der Weltwirtschaftskrise arm.

Das Motto der neuen Zeit: Tempo, Tempo!

Unter den wenigen Zusehern seiner Premiere sitzt unerkannt das einstige Starlet Miller. Ihr Tonfilm, zu dem die Massen drängen, hat sie reich gemacht. Sie kriegt alles, Luxusvilla, Luxusautos, sogar Valentins treuen Chauffeur Clifton, ein Kabinettstück für James Cromwell. Aus diesem Stoff sind Melodramen gewoben. Der Abstieg des Helden bei gleichzeitigem Aufstieg der Heldin. Und die Liebe! Bald kreuzen sich diese Bahnen erneut. Valentin, dieser alternde Schönling mit dünnem Schnurrbart, wie ihn auch Clark Gable trug, ergibt sich dem Alkohol, so wie einst Greta Garbos Lover John Gilbert. Statt Maßanzug trägt er nun ein schäbiges, viel zu großes Sakko. Seine Frau hat sich scheiden lassen, den Chauffeur hat er vertrieben, und dass Peppy ihm helfen will, erkennt er nicht, das verbietet ihm auch der Stolz. Nur sein kleiner Hund Jack (sensationell: Uggy) bleibt bei ihm und rettet ihn, als er in einem Anfall von Verzweiflung die alten Filme verbrennt und so gleich seine armselige Wohnung anzündet. Jetzt brennt der Kitsch.

Die Rettung aber, die zur Wiedervereinigung führt, zeigt auch einen weiteren Trick, der diesen Film so unwiderstehlich macht: Tempo, Tempo! Abgelichtet wird der rasende gesellschaftliche Umbruch der wilden Zwanzigerjahre, für den das erfolgreiche Glamour-Girl steht. Sie kriegt schließlich alles, mit der unerträglichen Leichtigkeit einer Stepptänzerin. Als sie der alternde Star in Begleitung zweier junger Männer sieht, sagt Peppy laut Texttafel: „Just toyboys!“ Sie will ja nur spielen, aber mit dem abgehalfterten Helden ist es ihr ernst. Wenn sie ihn sieht, dann strahlen ihre Augen vor Begehren, dann glüht ihr ganzes Gesicht vor Glück.

Die expressive Kunst der Lichtspiele

So viel sei verraten: Die Geschichte geht glücklich aus. Was aber hat uns Valentin am Ende wirklich zu sagen? Das sei noch verschwiegen, nur eines scheint gewiss: „The Artist“ zu sehen ist auch deshalb ein Vergnügen, weil mit modernster Technik an die expressive Kunst der Lichtspiele erinnert wird. Es ist eine alte Geschichte, doch immer wieder neu. Wer braucht Experimente in 3-D und digitale Soundeffekte, wenn doch die richtige Beleuchtung genügt, um ein Gesicht oder einen Blick unvergesslich zu machen, wenn eine Geste, ein klug choreografierter Tanz, und mag er auch von Altmeistern gestohlen sein, mehr sagt als bloßes modisches Geplapper? Dieser flotte Film ist kein Stummfilm, sondern einer über die Geschichte des frühen Films. Und weil sich Hazanavicius dieser Voraussetzung mit Augenzwinkern bewusst ist, lässt man sich auch gerne etwas von ihm erzählen.

Pastiche als „Vergewaltigung“?

„The Artist“ ist ein Herzensprojekt, das der französische Regisseur Michel Hazanavicius erst finanziert bekam, nachdem er mit Agentenparodien im Sixties-Stil um Spion „OSS 117“ sein Talent für Pastiche bewiesen hatte. Als Tribut an den Stummfilm ist „The Artist“ stilgerecht in Schwarz-Weiß und (fast) ohne Dialog. Ähnliches gab es schon in Filmen von Mel Brooks („Silent Movie“, 1976) oder Aki Kaurismäki („Juha“, 1999), aber erst Hazanavicius hat damit Mainstream-Erfolg.

Die Beliebtheit von „The Artist“ liegt auch an seiner postmodernen Raffinesse: Es geht um einen Stummfilmstar, dessen Karriere mit der Ankunft des Tonfilms in Hollywood Ende der 1920er endet. Benutzt werden Stilmittel des Stummfilms, zitiert werden Tonfilmklassiker: Die Handlung ist nahe am Musical „Singin' in the Rain“, eine Szene kopiert „Citizen Kane“, eine andere bedient sich des Liebesthemas von Alfred Hitchcocks Krimi „Vertigo“. Dessen Hauptdarstellerin, Kim Novak, protestierte mit einem wütenden Inserat dagegen: „Ich möchte eine Vergewaltigung anzeigen!“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2012)

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