„Manchester by the Sea“: Nach dem Film geht das Leben weiter

Lee (Casey Affleck) führte mit seiner Exfrau (Michelle Williams) einst ein glückliches Leben.
Lee (Casey Affleck) führte mit seiner Exfrau (Michelle Williams) einst ein glückliches Leben.(c) Universal Pictures
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Ein einsamer Hausmeister (Casey Affleck) kehrt in seinen Heimatort zurück, um sich um den Sohn seines toten Bruders zu kümmern: Kenneth Lonergans „Manchester by the Sea“ plätschert gemächlich dahin – doch sein Plätschern hallt nach.

Es gab eine Zeit, da waren ausdifferenzierte Charakterdramen Hollywoods große Stärke. Die Oscar-Listen der Vierziger und Fünfziger sind voll davon. Doch die Machtergreifung des Blockbusters, die zunehmende Ausfeilung normierter Zielgruppenformate und die Auslagerung avancierter Erzählkunst aufs Qualitätsfernsehen haben dem Genre nach und nach das Wasser abgegraben. Die Traumfabrik hat keinen Mittelbau mehr: Zwischen Großproduktionen für Weltpublikum und Low-Budget-Konzeptfilmen bleibt nur wenig Platz für unaufdringliches Schauspielerkino ohne Marketingaufhänger. Kein Wunder also, dass Kenneth Lonergans jüngste Arbeit, „Manchester by the Sea“, nach ihrer Sundance-Premiere im Jänner von der US-Kritik in den Himmel gelobt wurde – als gut geschriebenes, gut gespieltes und emotional erwachsenes Figurenporträt fernab von Themenlast und Effekthascherei füllt es ein mediales Vakuum. Mittlerweile gilt der Film neben Damien Chazelles Retro-Musical „La La Land“ als wesentlicher Oscar-Hoffnungsträger.

Dabei stand es lange Zeit nicht gut um Lonergans Regiekarriere. Das letzte Projekt des gelernten Theatermachers, der mit dem Drehbuch zur Robert-De-Niro-Erfolgskomödie „Reine Nervensache“ in Hollywood Fuß fassen konnte, war ein mustergültiger Entwicklungshöllenritt. Sein einfühlsames Geschwisterporträt „You Can Count on Me“ hatte ihm Anerkennung als angehender Autorenfilmer verschafft, im Anschluss holte er zum großen Wurf aus: „Margaret“ handelt von einem New Yorker Teenagermädchen, das einen tödlichen Unfall mitverschuldet und daraufhin in die Existenzkrise schlittert – doch das bildet nur den Ankerpunkt für die Entfaltung eines epischen Manhattan-Sozialpanoramas, das die Facetten der amerikanischen Psyche nach 9/11 zum Vorschein bringt.

Überzeugend dank Bescheidenheit

Lonergans Schnittfassung dauerte über drei Stunden, dem zuständigen Fox-Studio war das zu lang. Es folgte ein zermürbendes Feilschen und Austarieren, das keine wirklichen Früchte trug. 2005 war der Film abgedreht, ins Kino kam er erst sechs Jahre später – in einer verstümmelten Fassung und nur für kurze Zeit. Fox verklagte Lonergan wegen Vertragsbruchs und deponierte seine Langversion auf DVD. In cinephilen Kreisen konnte sich „Margaret“ dennoch zum Kultfilm mausern, was den Namen seines Schöpfers auf dem Radar hielt. „Manchester by the Sea“, basierend auf einer Idee von Lonergans Freund Matt Damon, ist nun Comeback und Rehabilitation in einem.

Der Regisseur hat aus seinen Erfahrungen gelernt: Trotz knapper zweieinhalb Stunden Laufzeit überzeugt das aktuelle Werk nicht zuletzt mit seiner Bescheidenheit. Das merkt man schon am Setting, dem titelgebenden Küstenstädtchen in Massachusetts, wo beschauliche Holzbauten im kalten Winterlicht unter sanften Schneedecken schlummern. Hier ist der Hausmeister Lee Chandler (Casey Affleck) aufgewachsen, hierher kehrt er zurück, als sein älterer Bruder einer Herzschwäche zum Opfer fällt und den 17-jährigen Patrick (Lucas Hedges) ohne Sorgeberechtigte zurücklässt. Laut Testament soll Lee die Vormundschaft übernehmen, was ihn absolut nicht interessiert – denn an Manchester haftet für ihn ein schreckliches Trauma, die Wurzel seiner Depression.

Die Handlung entwickelt sich ruhig und unaufgeregt, wie ein Puzzle ohne Rahmen, an das sukzessive neue Teile an verschiedene Ecken und Enden gesteckt werden. Zwischen Haupt- und Nebenszenen macht Lonergan keinen Unterschied: Er nutzt Zerfransung als Stilmittel, konturiert die Figuren über „unnötige“ Abschweifungen. Bei einem Behördengang driftet Lee gedanklich aus dem Fenster, und man findet sich unvermittelt in einer ausgedehnten Rückblende wieder, die sich nie als solche ausweist – aber auf eindringliche Weise sein früheres, glückliches Familienleben (mit Michelle Williams als Exfrau) der Einsamkeit der Gegenwart gegenüberstellt.

Selten war Casey Affleck so gut

Überdies ist die Melodramatik der Geschichte in eine ungewohnt lebensnahe Alltagsatmosphäre eingebettet. Die Schwere, die über dem Geschehen hängt, wird in fast jeder Szene von (humoristischen) Banalitäten unterwandert, Trauer ist kein reines Trauerspiel. Ein Freiluftstreit zwischen Lee und Patrick verläuft sich etwa schlicht, weil sie ihr Auto nicht finden können. Der Halbwaise hat sichtlich Schwierigkeiten, mit dem Verlust umzugehen, doch sein bewegtes Jugendlichendasein legt er darob nicht ad acta – der Film zeigt ihn auch bei holprigen Bandproben oder slapstickhaften Versuchen, mit einer seiner beiden Freundinnen zu schlafen. Selbst das Pathos eines Schlüsselmoments von „Manchester“ wird gebrochen, als sich eine Trage dagegen sperrt, in den Krankenwagen geladen zu werden.

Lonergans Verweigerung der Berg- und Talfahrten konventioneller Dramaturgie führt die mäandernde Erzählung manchmal an den Rand der totalen Erschlaffung. Die kunstlose, von langen Totalen bestimmte Inszenierung schafft da kaum Abhilfe. Aber Dialog und Schauspiel (Casey Affleck spielt oft introvertierte Arbeitertypen, selten war er so gut wie hier) überraschen immer wieder mit (zwischen-)menschlichen Details und halten einen bei der Stange. Es ist ein Film, der gemächlich dahinplätschert wie die Wellen der Massachusetts-Bucht, doch sein Plätschern hallt lange nach. Vielleicht, weil es am Schluss keine Katharsis gibt – stattdessen geht das Leben einfach weiter.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2017)

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