Wie bei den Buddenbrooks: Glucks "Alceste"

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Glucks "Alceste" mit dem Freiburger Barockorchester unter Ivor Bolton in der Staatsoper, inszeniert von Christof Loy: eine Art von bürgerlichem Trauerspiel mit offenem Ende - und schön ausgeführter Musik.

Enfants terribles! Denen fehlt halt der Vater, hätten einander zumindest die Angehörigen unserer Großelterngeneration zugeraunt. Denn der Nachkommenschar mangelt es an Disziplin, wenn sich die gerade noch wohlgeformten Reihen gleich nach Abgang der Frau Mama in Chaos auflösen, obwohl doch eine Art Kirchgang angesagt ist. Der geliebte Herr Papa ist nämlich krank, sterbenskrank, und die Kinder verstört. Sie wissen nicht, dass bald darauf die Mutter, um das Leben ihres Mannes zu retten, einen Liebestod erleiden will.

Christoph Willibald Glucks ausdrucksvoll-schöne, inhaltlich statuarische und musikalisch doch bewegende „Alceste“ steht auf dem Spielplan der Staatsoper – nach Händels „Alcina“ die zweite Produktion, bei der Dominique Meyer Originalklang-Gäste in den Graben holt. Das lohnt sich nun auf beinahe ebenso exemplarische Weise wie im ersten Fall: Unter Ivor Boltons liebevoll animierender Leitung macht das Freiburger Barockorchester die bei aller intendierten Klarheit doch auch reich verästelte Partitur dieser „Tragédie-Opéra“ des Opernreformators lebendig, deren 1767 für Wien geschaffene Urfassung sich für Mozarts „Don Giovanni“ als ungemein einflussreich erweisen sollte.

Herbe Schmerzensakkorde

Gegeben wird freilich die umgearbeitete und in manchen Elementen noch weiter verdichtete französische Version von 1777, erstmals an der Staatsoper in Originalsprache. Zu einem großen musikalischen Fluss verbunden, stand da delikat ausformulierte Elegance (wunderbar sinnlich der von duftigen Pizzicati begleitete Chor „Parez vos fronts“) neben düsteren Posaunenklängen und expressivem Nachdruck – etwa wenn König Admètes Zürnen herbe Schmerzensakkorde im Orchester hervorruft. Und Bolton ließ sich auch nicht jenen berühmten Schauereffekt entgehen, den der Gluck-Verehrer Hector Berlioz bewundernd beschreibt, obwohl sich dieser in keiner älteren Quelle nachweisen lässt: Wenn die Götter des Hades im dritten Akt ihre Forderung nach einer Seele bekräftigen, sei es von König oder Königin, legen die beiden Hornisten die Schalltrichter ihrer Instrumente fast deckend aufeinander und spielen dramatische Unisonotöne, die einander dabei zu wahrlich unerhörtem Klang dämpfen.

Die orchestrale Vorgabe einzuholen, gelingt der Sängerbesetzung nicht ganz. Véronique Gens, bei ihrem Hausdebüt wohl nicht in idealer Verfassung angetreten und deshalb vorsichtig agierend, beeindruckt als heroisch-duldsame Alceste mit ausdrucksvoller Phrasierung und lebendiger Deklamation ohne jeden stilfremden Drücker. Doch auch für jene, die nicht unbedingt Stimmen vom Rang und Kaliber etwa einer Maria Callas im Gedächtnis haben, mag der durchaus belastbare Sopran der Französin doch zu leichtgewichtig erscheinen, um den dramatischen Aplomb von „Divinités du Styx“ auszuschöpfen. Die lyrischen Valeurs erfüllt Gens jedoch durchaus rührend und kann auch die Hoheit der Figur glaubhaft machen – obwohl Regisseur Christof Loy in dieser aus Aix-en-Provence übernommenen Produktion die Handlung von der antik-monarchischen auf eine bourgeoise Ebene herunterbricht.

Dirk Becker hat dazu einen relativ schmalen, schrägen Bühnenraum geschaffen, dessen Holzvertäfelung großbürgerliche Verbindlichkeit verströmt und hinter einer ausladenden Doppelschiebetür wechselnde Blicke in andere Zimmer ermöglicht. Eine Scheinidylle, was sonst, bei der immer wieder eine morbide Atmosphäre à la „Buddenbrooks“ fühlbar wird. Loys größter Coup aber ist die Interpretation des ganzen Chores als Kinderschar des Paares, zu denen auch der musterknäbliche Évandre des tadellos singenden Benjamin Bruns und die Koryphäen zählen (Ileana Tonca, Juliette Mars, Alessio Arduini), die allesamt vom bösen Priester der Ober- wie Unterwelt (Clemens Unterreiner) bedrängt werden: Der Gustav Mahler Chor, manchmal etwas offbeat, aber sonor und voller Spielfreude, spaltet sich in detailreich und individuell gezeichnete Einzelfiguren auf. Durchaus schlüssig und im Einklang mit dem Text spiegelt sich in den Reaktionen ein unterschiedliches Verhältnis zu den Eltern: Der drohende Tod der Mutter ruft eher Lethargie als Gefühlsausbrüche hervor.

Der langsam fortschreitenden, in quälend-quälerischen Erwägungen sich ergehenden Handlung tut Loy dabei keine Gewalt an, nimmt sich Zeit – auch wenn das Zusammenspiel von Admète und Alceste etwas konventionell ausfällt, szenisch wie inhaltlich: Sie ist die liebende Dulderin und hat wohl im Alltag die sogenannten Hosen an; er muss sich erst vom netten, aber ahnungslosen jungen Mann zum starken Partner, ja Widerpart entwickeln, sodass die ausweglose Pattsituation des Füreinander-sterben-Wollens deutlich wird. Der Kanadier Joseph Kaiser, Barenboims Salzburger Lenski, leiht ihm seinen hier gut passenden, sympathisch-soliden Tenor. Ein surrealer Kinderspuk, inszeniert vom guten Onkel Hercule (markant: Adam Plachetka) symbolisiert die siegreiche Konfrontation mit der Unterwelt, zuletzt verschwinden alle in die Finsternis: Tod oder Leben? Bloß eine Frage der Perspektive.

Das gilt auch für Erfolg oder Misserfolg: Dem großen Jubel für die musikalische Seite standen einige Buhs für die Regie gegenüber.

Serie in der Staatsoper

Originalklang. Glucks musikalisch bewegende „Alceste“ ist die zweite Produktion, für die sich Dominique Meyer Originalklang-Gäste in den Orchestergraben holte (Ivor Bolton und das Freiburger Barockorchester, 12., 15., 18., 22. und 26. November). Die erste – Händels „Alcina“ – bestritten Marc Minkowski mit seinen Musiciens du Louvre, nach einer umjubelten Premierenserie folgte letzte Saison eine Wiederaufnahme.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2012)

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